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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 08.06.2006:

"Integration ist keine Einbahnstraße"

Eine stärkere Verzahnung von Bildungspolitik und Sozialpolitik fordert Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge als Konsequenz der neuen PISA-OECD-Studie
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Christoph Butterwegge

Bildung PLUS: Haben Sie die Ergebnisse der neuen PISA-OECD-Studie begrüßt, oder fühlen Sie sich gelähmt angesichts des offiziellen Eingeständnisses, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in diesem Land geringe Chancen haben?

Butterwegge: All diese Schulleistungsvergleiche bestätigen nur, was kritische Teilnehmer und Beobachter der bundesdeutschen Fachdiskussion seit langem wissen: Unser mehrgliedriges Bildungssystem verstärkt Benachteiligungen von Minderheiten, die sich aus deren sozialer Schlechterstellung ergeben, durch teilweise subtile Formen der Diskriminierung. Wer alles auf die kulturelle Fremdheit, den Islam und "Parallelgesellschaften" schiebt, macht sich die Erklärung für signifikante Leistungsunterschiede zwischen Einheimischen und Zuwanderern, aber auch innerhalb dieser Gruppe, zu leicht. Entmutigt bin ich nicht, weil die bestehenden Probleme durch solche Studien mehr Öffentlichkeit erhalten und hierdurch das Bewusstsein für nötige Reformen geweckt wird.

Bildung PLUS: Nutzt die Politik denn aus Ihrer Sicht die Chance, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen?

Butterwegge: Manche Politiker schieben die Schuld für Missstände gern deren Hauptleidtragenden zu und versäumen dabei, ihnen konsequent zu begegnen, wie das zum Beispiel in Skandinavien geschieht. In Deutschland werden die Migranten selbst für Integrationsdefizite verantwortlich gemacht, statt bis zum In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes fast völlig fehlende Integrationsangebote als Bringschuld der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Einwanderern zu begreifen. Integration ist keine Einbahnstraße, und man darf sie nicht zu einer Zwangsveranstaltung mit Repressionsdrohungen und Ausweisungsmaßnahmen verkommen lassen.

Bildung PLUS: Wo liegt denn der historische Grund für die gegenwärtige Problematik der Förderung von Migranten?

Butterwegge: Weder das Wilhelminische Kaiserreich noch die Weimarer oder die Bundesrepublik haben sich als Einwanderungsland begriffen, sondern das Deutschsein immer für ihre "Ureinwohner" reserviert. Durch diese mentale Schließung, verbunden mit der bis heute fortwirkenden Überzeugung, die Deutschen seien ein besonders tüchtiges, fleißiges und erfindungsreiches Volk, hinkte die Migrationspolitik der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer hinterher. Als die Bundesrepublik in den 50er- und 60er-Jahren aufgrund des damaligen "Wirtschaftswunders" mehr Arbeitskräfte brauchte, holte man zwar "Gastarbeiter", die aber bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Integrationsmaßnahmen und Sprachförderung erschienen vor diesem Hintergrund kontraproduktiv, weil sie zur Aufenthaltsverfestigung hätten beitragen können.

Bildung PLUS: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Problemen der Migration und dem Phänomen der Kinderarmut?

Butterwegge: Von den knapp 12 Millionen Kindern bis 15 Jahre lebten im April 2006 über 1,788 Millionen in sog. Hartz-IV-Haushalten (SGB-II-Bedarfsgemeinschaften). Rechnet man die übrigen Betroffenen hinzu und berücksichtigt die Dunkelziffer, leben gut zwei Millionen Kinder, d.h. mindestens jedes sechste Kind, auf Sozialhilfeniveau. Viele davon haben einen Migrationshintergrund, weil ihre Eltern stärker von länger dauernder Arbeitslosigkeit betroffen sind als Einheimische. (Kinder-)Armut ist aber mehr, als wenig Geld zu haben. Sie führt zu zahlreichen Benachteiligungen, etwa im Bildungsbereich, bei der Gesundheit und im Wohnumfeld.

Bildung PLUS: Lässt sich die Kinderarmut denn Ihrer Meinung nach durch bildungspolitische Maßnahmen spürbar verringern?

Butterwegge: Neben der Bildungs- ist die Sozialpolitik gefragt. Beide dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. So wichtig bessere Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen sind, so notwendig ist die Schaffung von mehr Lehrstellen und Arbeitsplätzen. Fehlende oder mangelhafte Bildung kann die Armut potenzieren und zementieren. Sie ist jedoch nur deren Auslöser, nicht die Ursache materieller Not und Bildung daher keine Wunderwaffe im Kampf gegen die (Kinder-)Armut. Eine bessere (Schul-)Bildung erhöht die Chancen eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne die Erwerbslosigkeit und die Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen.

Bildung PLUS: Warum sind Kinder der zweiten Generation von Migranten schlechter integriert als die der ersten Generation und wie kann man diese Gruppe erreichen? Vielleicht in Ganztagsschulen?

Butterwegge: Die Kinder der zweiten Einwanderergeneration schneiden bei PISA so schlecht ab, weil die Schule als Institution im Grunde nur reproduziert und zementiert, was in der Gesellschaft angelegt ist: Je länger Ausländer hier leben, umso mehr wächst die Gefahr, dass sie zu "Modernisierungsverlierern" und zum "sozialen Bodensatz" werden, während nur wenigen Zuwanderern der erhoffte berufliche Aufstieg gelingt. Ausbaden müssen das letztlich die Kinder.

Ganztagsschulen, die (preisgünstige oder kostenlose) Kindergarten-, Krippen- und Hortplätze ergänzen sollten, haben einen doppelten Nutzeffekt: Einerseits können von Armut betroffene oder bedrohte Kinder umfassender betreut und systematischer gefördert werden, andererseits ihre Mütter leichter als sonst einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was sie finanzielle Probleme viel eher meistern lässt. Durch die Ganztagsschule als Regelschule lassen sich bestimmte soziale Handikaps kompensieren, weil z.B. eine Versorgung der Kinder mit gesunder Nahrung (gemeinsames Mittagessen), eine systematische Förderung bestimmter Schülerinnen und Schüler bei der Erledigung von Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung des Nachmittags möglich sind.

So wichtig mehr Ganztagsbetreuung ist, so wenig reicht sie aus, um Bildung von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Gleichwohl stößt die Reformdebatte selten bis zur Drei- bzw. Viergliedrigkeit unseres Schulwesens vor. Sinnvoll wäre eine Strukturreform hin zur Gemeinschaftsschule, welche die Kinder unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft möglichst lange zusammen lässt.

Bildung PLUS: Welche Instrumente der Sprachförderung - Stichwort FörMig - bringen weiter? Reichen Sie aus?

Butterwegge: Zweifellos hat das BLK-Programm "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" aufgrund seiner breiten Anlage sowie seiner durchgängigen Vernetzung von Akteuren und Handlungsebenen einen ausgesprochenen Vorbildcharakter. Man darf Integration jedoch nicht auf die Sprachförderung reduzieren, so wichtig sie ist. "Bildungsarmut", die in der Bundesrepublik besonders unter Kindern aus zugewanderten Familien grassiert, lässt sich nur verringern, wenn Schul- bzw. Weiterbildung als Kern einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik verstanden wird und eine strukturelle Benachteiligung von Kindern - wie sie das dreigliedrige Sekundarschulsystem aufgrund seiner sozialen Selektivität bedingt - unterbleibt. Bildungsbeteiligung ist zur Armutsbekämpfung nicht ausreichend und längst kein Garant für eine gesicherte materielle Existenz mehr.

Bildung PLUS: Welche Ansätze der Lehrerfortbildung halten Sie für geeignet, um aus der Integration der Migranten mehr als nur eine Verlautbarung werden zu lassen?

Butterwegge: Schon in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sollte vermittelt werden, dass Migration aufgrund der fortschreitenden Globalisierung zur Normalität wird, dass nicht nur Kapital nationalstaatliche Grenzen überschreitet, sondern auch Menschen dieses Recht für sich in Anspruch nehmen, Mobilität und Bilingualität wichtige Kompetenzen sind und dass die Schule zum Respekt und zur Anerkennung erziehen muss. Wer nicht schon an der Hochschule für die sozialen Probleme von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sensibilisiert ist, kapituliert zwangsläufig im Schulalltag davor.

Bildung PLUS: Eine immer wieder artikulierte Furcht von Migranten bzw. entsprechender Verbände (Zentralrat der Muslime) ist die vor der Assimilation. Halten Sie diese Position für begründet?

Butterwegge: Wenn die Massenmedien immer wieder das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft verkünden, die Integrationsunwilligkeit und -unfähigkeit der Migranten, besonders jener muslimischen Glaubens, beklagen und die "deutsche Leitkultur" als Lösungsmöglichkeit propagieren, wächst bei Zuwanderern natürlich die Angst, dass sie "zwangsgermanisiert" werden sollen. Würde hingegen klar, dass keine Anpassung oder kulturelle Unterordnung gemeint ist, sondern Integration als ökonomische und soziale Inklusion verstanden wird, die gleichberechtigte politische Partizipation einschließt, wäre ein friedliches, gedeihliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Hautfarbe und Religionszugehörigkeit möglich.

Bildung PLUS: Wird der Rechtsextremismus zu einer ernsten Gefahr, wenn die Gesellschaft bei der Integration von Migranten versagt?

Butterwegge: Wenn sich bei den Einheimischen durch negative Medienbilder der Eindruck verfestigt, dass Zuwanderer eine Außenseitergruppe bilden, die "uns" in der (Rütli-)Schule, bei Behörden, im Strafvollzug oder auf der Straße nur Probleme bereitet, wird ihre ökonomische, soziale und politische Integration schwieriger, aber auch Wasser auf die Mühlen des Rechtsextremismus geleitet. Integrations- und Bildungsdefizite der Kinder mit Migrationshintergrund fördern die rassistische Stimmungsmache und suggerieren, der Multikulturalismus seigescheitert. Auch deshalb sollte die Politik mehr für Zuwanderer und ihren Nachwuchs tun.


Christoph Butterwegge, geboren 1951 in Albersloh (Krs. Münster/Westfalen), Promotion 1980 und Habilitation 1990 an der Universität Bremen, Vertretungsprofessur an der FH Potsdam im Fach Politikwissenschaft/Sozialpolitik von 1994 bis 1997, seit 1998 Universitätsprofessor, Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität zu Köln und Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt). Butterwegges letzte Buchveröffentlichungen: "Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland", Wiesbaden (VS - Verlag für Sozialwissenschaften) 2005; "Krise und Zukunft des Sozialstaates", 1. und 2. Aufl. Wiesbaden (VS - Verlag für Sozialwissenschaften) 2005; "Massenmedien, Migration und Integration", Wiesbaden (VS - Verlag für Sozialwissenschaften) 1. und 2. Aufl. 2006.

 

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 08.06.2006
© Innovationsportal

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