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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 04.05.2006:

"Man hat angefangen, über unsere Forderungen zu diskutieren"

Jugendliche türkischer Herkunft werden nicht genügend gefördert
Das Bild zum Artikel
Dr. Ertekin Özcan

Bildung PLUS: Herr Dr. Özcan, als Bundesvorsitzender der FÖTED, der Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland, haben Sie die Entwicklungen im bildungspolitischen Bereich im Blick. Hat sich an der Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund seit dem PISA-Schock etwas verbessert?

Özcan: Die Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat sich nicht wesentlich verbessert. Immer noch verlassen etwa 59 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache am Ende der zehnjährigen Schulpflicht die Schule ohne Abschlüsse oder mit einem einfachen Hauptschulabschluss. Der Anteil deutscher Schülerinnen und Schüler liegt bei etwa 30 Prozent. Diese beiden Gruppen haben immer noch keine Chance, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Aber insbesondere nach den Ergebnissen der PISA-Studien hat ein Teil der Politiker und der politischen Parteien die Probleme der Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache und Schülerinnen und Schüler deutscher Herkunft aus sozial schwachen Schichten ernst genommen. Man hat endlich angefangen, über die Forderungen und Vorschläge, die wir seit Jahrzehnten gestellt und gemacht haben, zu diskutieren und sie teilweise umzusetzen.

Bildung PLUS: Welche Entwicklungen im Bildungsbereich der letzten Jahre begrüßen Sie, welche nicht?

Özcan: Wir begrüßen insbesondere den Vorschlag der Bundesfamilienministerin über die Einführung einer verbindlichen und kostenlosen Ganztagsbetreuung in der Kindertagesstätte. Dieser Vorschlag soll endlich Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt werden, was man in Finnland und Frankreich schon seit Jahrzehnten praktiziert. In einigen Bundesländern gibt es in dieser Richtung positive Ansätze. Zum Beispiel hat man in Berlin den Schulbeginn der Kinder ein halbes Jahr vorgezogen.
Eine Kita-Pflicht nützt nach unserer Ansicht aber nur dann, wenn sich Kitas auch verändern. Die Sprachstandserhebung in Berlin und in anderen Bundesländern hat gezeigt, dass auch Kinder, die eine Kita besucht haben, mangelhafte Deutschkenntnisse aufweisen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir das neue Bildungsprogramm für Kindertagesstätten in Berlin.
Die qualifizierte Früherziehung und die frühe Sprachförderung aller Kinder kann man durch die hoch qualifizierten Erzieher/innen mit interkulturellen Kompetenzen ermöglichen. Wir halten die Novellierung der Erzieherausbildungsverordnung in Berlin für einen wichtigen Schritt. Nach dieser Verordnung beginnt man damit, qualifizierte Erzieher/innen an den Universitäten auszubilden. Diese werden aber erst in fünf bis sechs Jahren anfangen können, ihren Beruf auszuüben. Wir brauchen aber dringend einen Wandel unseres Erziehungssystems im Kita-Bereich. Es wäre natürlich angebracht, qualifizierte Früherziehung und frühe Sprachförderung aller Kinder bundesweit sicherzustellen.
Nach den Ereignissen in der Rütli-Hauptschule in Berlin diskutiert man jetzt öfter über den gemeinsamen Unterricht bis Ende der Schulpflicht und über ein bundesweit flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen. Wir sind der Ansicht, dass die im auslaufenden IZBB-Programm der Bundesregierung vorgesehenen vier Milliarden Euro verdoppelt werden müssten, um einen Wandel in Aussicht zu stellen.

Aber es gibt leider auch negative Entwicklungen. Man spricht viel von der Förderung der Deutschsprachkompetenz der Kinder. Man hat vor einigen Jahren begonnen, Deutsch als Zweitsprache (DaZ) für die Schülerinnen und Schüler anzubieten, ohne die Lehrerinnen und Lehrer darauf vorzubereiten. Und nun hören wir, dass die Schulbehörden entschieden haben, dieses Programm zu beenden. Das geht so nicht. Wenn eine Förderung nachhaltig Erfolge erzielen soll, sollten die Förderungen kontinuierlich angeboten werden.
Fast in allen Bundesländern gibt es Kürzungen im Bereich des muttersprachlichen Unterrichts. In Bayern, Niedersachsen, Hessen und in NRW werden kaum neue muttersprachliche Lehrerinnen und Lehrer eingestellt, wenn welche aus verschiedenen Gründen - Pension, Rente, Krankheit - aus dem Berufsleben ausscheiden.

Einige konservative Politiker vergiften durch ihre populistischen Äußerungen die politische und gesellschaftliche Atmosphäre in Deutschland. Sie erwecken mit Unterstützung der Massenmedien den Eindruck, dass die Einwandererinnen und Einwanderer nicht Deutsch lernen wollen. Obwohl sie genau wissen, dass alle Deutschkurse voll belegt sind und noch mehr Angebote gebraucht werden.

Bildung PLUS: Der Kontakt der Schulen zu türkischen Eltern funktioniert aufgrund von Sprachbarrieren noch immer nicht besonders gut. Wie kann ein besserer Kontakt hergestellt werden?

Özcan: Das Problem der Elternarbeit ist nicht nur ein Problem eines Teils türkischer Eltern, sondern unter anderem auch das sozialschichtspezifische Problem deutscher Eltern. Von Jahr zu Jahr werden mehr Eltern türkischer Herkunft für ihre Kinder aktiver. Durch die Unterstützung unserer Mitgliedervereine bieten wir in jedem Jahr Hunderte von Informationsveranstaltungen und Seminare in deutscher und türkischer Sprache an, um die Elternvertreter und Eltern zu befähigen und zu motivieren, mitzuwirken. Zehntausende Eltern rufen unsere Vereine an, um telefonisch Auskunft für die Lösung der Probleme ihrer Kinder zu erhalten. Tausende Eltern besuchen unsere Beratungsstellen. Tausende Schülerinnen und Schüler besuchen unsere Kurse für Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe. Wir brauchen mehr finanzielle und politische Unterstützung und Mittel, um unsere Angebote zu erweitern.
Die Schulen sollten die Eltern verschiedener Herkunft als gleichberechtigte Bildungspartner akzeptieren, wie auch die Eltern die Lehrerinnen und Lehrer als Bildungspartner akzeptieren sollten.

Bildung PLUS: In unserem Interview vor drei Jahren haben Sie herausgestellt, dass das Sprachenlernen zweisprachiger bzw. mehrsprachiger Kinder durch die öffentlich-rechtlichen Institutionen nicht genügend gefördert wird. Inzwischen ist viel von Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund die Rede. Wird in Kita und Schule nach Ihren Beobachtungen jetzt mehr und besser gefördert?

Özcan: Der Spracherwerb und das Sprachenlernen der zweisprachigen bzw. mehrsprachigen Kinder werden durch die öffentlich-rechtlichen Institutionen (Kitas und Schulen etc.) grundsätzlich nicht genügend gefördert. Wie ich oben erwähnte, wurden in den letzten drei Jahren in diesem Bereich weitere Kürzungen vorgenommen.
Einerseits werden in Berlin in 16 Sprachen zweisprachige "Staatliche Europa-Schulen" finanziert, andererseits wird jedoch Türkisch als muttersprachlicher Unterricht in einigen Bundesländern wie in Berlin an den Schulen nicht angeboten. Ich glaube, dass wir in Deutschland im Hinblick auf unsere Kultur und Sprache mit den Ministerialverwaltungen und einem großen Teil der Politik und Massenmedien Akzeptanzprobleme haben.

Bildung PLUS: Wie hat sich die Bereitschaft türkischer Eltern entwickelt, ihre Kinder beim Erlernen der deutschen Sprache durch eigenen Spracherwerb zu unterstützen?

Özcan: Kinder wachsen mehr oder weniger in einem zweisprachigen Umfeld auf. Diese natürliche Zweisprachigkeit soll sowohl von den Familien als auch von den öffentlich rechtlichen Institutionen (Kita, Schule) unterstützt werden. Es gibt Hunderte von Studien, die belegen, dass die Kinder in der Lage sind, zweisprachig bzw. mehrsprachig aufzuwachsen. Die Mehrsprachigkeit oder das Erlernen der Muttersprache verhindern nicht den Erwerb und das Erlernen einer weiteren Sprache, sondern unterstützen sie.

Wie wir wissen, ist nur ein Teil der Eltern türkischer Herkunft in der Lage, ihre Kinder beim Spracherwerb und beim Erlernen beider Sprachen (Deutsch und Türkisch) - durch Sprechen, Lesen, Märchen erzählen, Kassette oder CD hören etc. - zu unterstützen und zu fördern. Der große Teil der Eltern kann jedoch zu dieser Förderung nicht beitragen. Daher sollten Familien, Kitas, Schulen und Jugendhilfe Hand in Hand arbeiten, um die Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler in deutscher und in türkischer Sprache zu fördern.

Bildung PLUS: Was halten Sie von dem Vorschlag der Bundesfamilienministerin von der Leyen, das letzte Kindergartenjahr für alle Migrantenkinder als Pflichtjahr einzuführen?

Özcan: Das wäre ein wichtiger Schritt für die Kinder, wenn es kostenlos wäre. Das reicht aber nicht aus. Kinder sollten spätestens ab dem dritten Lebensjahr verbindliche und kostenlose Kindergartenbetreuung haben. Dies müsste innerhalb von fünf Jahren endlich geschehen.

Bildung PLUS: Die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland fordert, Türkisch als Muttersprache in den normalen Schulunterricht aufzunehmen. Konnten Sie in dieser Hinsicht Erfolge erzielen?

Özcan: Leider nicht. Wir fordern, dass Türkisch neben Deutsch und anderen Fächern mindestens vier Unterrichtsstunden wöchentlich als zeugnis- und versetzungsrelevantes Fach angeboten wird. Dieses Fach soll mit einem interkulturellen Ansatz in anderen Fächern wie in Deutsch, Sozial- und Sachkunde etc. koordiniert erteilt werden. In einigen Bundesländern wird das - in Hessen nur bis zum Jahr 2000 - seit vielen Jahren praktiziert.
Wie ich schon erwähnte, haben wir als türkische Gesellschaft große Anerkennungsprobleme mit den Ministerialbehörden. Manchmal hören wir dies direkt, manchmal spüren wir dies aufgrund des Verhaltens der zuständigen Personen der Schulbehörden. Wenn man eines Tages die Sprachen und Kulturen der Einwandergruppen mit der deutschen Kultur und Sprache grundsätzlich gleichstellt, werden wir als Menschen keine Akzeptanzprobleme in dieser Gesellschaft haben.
An dieser Stelle muss ich kurz auf den Beschluss der Herbert-Hoower-Realschule in Berlin eingehen. Nach unserer Ansicht dürfen Schulen und Kitas nicht die Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler verbieten oder Deutschsprachpflicht auf den Schulhöfen einführen, wie es an dieser Realschule in Berlin der Fall war. Ich will hier zuerst klarstellen, dass die Kommunikationssprache in den Schulen Deutsch ist. Zweitens ist es auch sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler türkischer, deutscher und nicht deutscher Herkunft sehr gute Deutschkenntnisse haben sollen, um einen guten Abschluss zu erreichen. Drittens sollte man auch feststellen, dass man mit den Beschlüssen "Deutschsprachpflicht auf den Schulhöfen" weder das Gewaltproblem der Schulen, noch die Defizite der Sprachkompetenz lösen kann. Solche Beschlüsse sind viertens kontraproduktiv, fünftens haben sie keine pädagogische Auswirkung, sechstens sind sie gegen das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes und das Schulgesetz sowie internationale Vereinbarungen, siebtens werden Minderheitensprachen und Kulturen abgegrenzt und abgewertet, achtens, wo Druck auf die Sprachen und Kulturen ausgeübt wird, gibt es dagegen Widerstand, neuntens sind die Pausen zur Entspannung der Schülerinnen und Schüler vorgesehen, deshalb sollten sie in der Sprache sprechen können, in welcher sie wollen, zehntens stellt diese Entscheidung einen Beweis des Versagens des deutschen Schulsystems und der Hilflosigkeit der Lehrerinnen und Lehrer sowie deren Ausbildung dar, dass in der sechsjährigen Schulregelzeit in Berlin die deutsche Sprache den Schülerinnen und Schülern nicht beigebracht werden konnte.

Bildung PLUS: Welche Maßnahmen sind Ihrer Ansicht nach darüber hinaus nötig, um Kinder und Jugendliche ausländischer Herkunft in ihrer Bildungsbiografie gleichberechtigt zu behandeln? Was könnten ihre Eltern dazu beitragen?

Özcan: Die Schülerinnen und Schüler bräuchten die qualifizierten Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund einerseits als Vorbilder an den Schulen, mit denen sie sich identifizieren können. Andererseits sollten diese Lehrkräfte muttersprachlichen Unterricht erteilen.
Die Ausbildung sollte nach der Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der Gesellschaft, der Schulen und der Kitas reformiert werden. Die Situation von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher Herkunftssprache und ihr migrationspezifischer Hintergrund sollten im interkulturellen Lehramts- und Erzieher/innenstudium aufgenommen werden.

Die Qualität der Erzieher/innen und Lehrer/innen sollte durch interkulturelle Aus-, Fort- und Weiterbildungen, entsprechend der Vielfalt der Kulturen, der Schulen und Gesellschaft, gesichert werden.
Die Schulung ausreichender Lehrkräfte für das Fach Deutsch als Zweitsprache (DaZ) müsste kontinuierlich gewährleistet werden, da derzeit viele Stunden von nicht qualifizierten Lehrkräften erteilt werden.

Eltern nicht deutscher Herkunftssprache und aus sozial schwachen Schichten sollten ihre Rechte und Pflichten gegenüber der Schule gut kennen, aktiv am Schulleben ihrer Kinder teilnehmen und sich zu Elternvertreter/innen wählen lassen. Eltern, die nicht über genügende Deutschkenntnisse verfügen, sollten Deutschkurse besuchen, die kostenlos anzubieten sind.

Um Eltern türkischer Herkunft im Erziehungs- und Bildungsbereich zu sensibilisieren und zu motivieren sowie ihre Teilnahme an den Schulgremien zu erhöhen, planen die FÖTED und ihre Mitgliedsvereine in Zusammenarbeit mit den türkischen Dachverbänden und deutschen Interessenorganisationen, eine erneute Kampagne bzw. Bildungsoffensive für Mehrsprachigkeit zu starten.

 

Dr. Ertekin Özcan, 60, Sozialwissenschaftler, Jurist und Dichter, ist Bundesvorsitzender der FÖTED - Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland. Er hat zwei Töchter im Alter von 24 und 26 Jahren, die Türkisch als zweite Fremdsprache hatten und zurzeit die Uni besuchen.

 

Ein Gedicht von Ertekin Özcan:


Erde und Kinderhirn

Eine unbearbeitete Erde ist das Kind
Wenn es im Mutterleib befruchtet ist
Da gibt es weder den Wurzelstock der Quecke 
Noch hat Distel Wurzeln geschlagen

Ein unbestelltes Feld ist das Kinderhirn
                                       in der Regel
Während es geboren wird
Eine leere Kassette im Rekorder
Eine Videokassette ohne Bild
Was du ihm gibst, speichert es
                    in den feinen Teilen des Gehirns ein
Wenn du Sprachen säst, erntest du Sprachen
Wenn du Rosen pflanzt, wachsen Rosen
Was du anbaust, wird in der Regel grün
          und verteilt sich in den Gehirnzellen

Ein ungepflügtes Feld ist das Kinderhirn
Ein unkultivierter Garten in der Regel
Wenn du in ihm die Freiheit säst, wächst die Freiheit
Wenn du den Krieg säst, der Krieg

Wenn du die Liebe säst, die Liebe
Wenn du die Schönheit säst, die Schönheit
Wenn du den Hass säst, der Hass
Wenn du den Frieden säst, der Frieden
Was für Samen du auch ausstreust, sie sprießen in der Regel
           in Tausenden von Blumenarten zu blühenden Hirngärten

Eine leere Computerdisk ist das Kinderhirn
Ein Garten, auf den keine Sonne schien
Und eine leere Compactdisk
Säe darin die Samen der Sprachen
          damit die Erde mit Blumen geschmückt wird
Bewässere es mit dem Regen des Friedens
           der Liebe
                    und der Schönheit
Ernähre es mit der Sonne der
          Geschwisterlichkeit
                  Toleranz
                          und Akzeptanz
Damit es das ganze Universum umarmt

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 04.05.2006
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