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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 03.04.2006:

"Realistische Perspektiven entwickeln"

Interview mit Prof. Dr. Eckhard Klieme zu den Ergebnissen der DESI-Studie
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Prof. Dr. Eckhard Klieme

Prof. Dr. Eckhard Klieme ist Leiter der DESI-Studie. Im Rahmen dieser Studie "Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International" wurden cirka 11.000 Neuntklässler aller Schularten jeweils zu Beginn und am Ende des Schuljahres 2003/2004 getestet. Zudem wurden Lehrer, Schüler, Eltern und Schulleiter über den Unterricht, die Einstellungen zum Lernen und Lehren sowie die schulischen und familiären Rahmenbedingungen befragt. Den Englischunterricht untersuchten die Wissenschaftler anhand einer Videostudie. Die DESI-Studie ist bundesweit repräsentativ und liefert differenzierte Aussagen über den Prozess des Lehrens und Lernens sowie den Erwerb sprachlicher Kompetenzen. Anders als die PISA-Studie stellt die DESI-Studie kein Ranking auf und wurde lediglich in Deutschland durchgeführt.

Im Anschluss an das Interview mit Prof. Klieme finden Sie auch ein Dossier zur DESI-Studie.  

Interview mit Prof. Klieme
Dossier zur DESI-Studie

Bildung Plus: Im Vergleich zu der PISA-Studie richtet die DESI-Studie den Blick mehr auf den Lernprozess. Es wurde der Verlauf eines Schuljahres ausgewertet. Auch hat die DESI-Studie erstmals Fremdsprachen zum Thema gemacht. Wie könnten Erkenntnisse der DESI-Studie jene der PISA-Studie sinnvoll ergänzen?

Eckhard Klieme: Die Ergänzung besteht zum einen darin, dass der Unterrichtsprozess stärker in den Vordergrund tritt, was möglich ist, weil wir ganze Klassen über ein Jahr hinweg begleitet, Schüler wie Lehrkräfte befragt und im Englischunterricht die Videostudien durchgeführt haben Wir können von daher etwas über die Qualität des Deutschunterrichts sagen und ihre Auswirkung auf Lesekompetenz und andere Fähigkeitsdimensionen. Der zweite wichtige Punkt ist, dass wir ein differenzierteres Spektrum an Fähigkeiten erfasst haben: zum einen in Bezug auf die Fremdsprache Englisch, zum anderen innerhalb des Deutschunterrichts.

Bildung Plus: Die DESI-Studie hat gezeigt, dass Schülerinnen und Schülern, die bereits Deutsch als zweite beziehungsweise fremde Sprache erworben haben, das Erlernen der Fremdsprache Englisch vergleichsweise leichter fällt. Was könnte dies für das Thema Migration und Bildung in Deutschland bedeuten? Wie können die Potenziale von Schülern mit Migrationshintergrund besser gefördert werden?

Eckhard Klieme: Es bleibt nach wie vor eine zentrale Aufgabe der Schule, die Fähigkeiten von Schülern mit Migrationshintergrund im Bereich des Deutschen zu fördern. Wir sehen anhand unseres Tests, dass es insbesondere auf den Wortschatz, also auf ein breites Sprachtraining ankommt. Wichtig sind ebenfalls die Textproduktion und die Schreibfähigkeiten. Die Rechtschreibung der Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache ist interessanterweise nicht schlechter als die der Deutschen mit gleichem Bildungshintergrund. Eine Förderung im Deutschen ist auch noch in der neunten Jahrgangsstufe nach wie vor sehr dringend. Wir sehen ebenfalls, dass diese Förderung besonders in den Klassen gut gelingt, in denen die Lehrer auf sprachliche Basiskompetenzen wie richtigen Ausdruck, richtiges Schreiben, die Verwendung eines angemessenen Wortschatzes sowie eines guten Sprachstils explizit Wert legen.

Eine solche Fokussierung auf sprachliche Grunddimensionen kommt besonders den Schülern mit Migrationshintergrund zugute. Die Tatsache, dass sie bestimmte Startvorteile beim Fremdsprachenlernen haben, zeigt, dass Migration oder in diesem Fall Mehrsprachigkeit eben nicht nur mit Problemen verknüpft ist, wie es so oft in der Debatte hierzu erscheint. Das ist eine wichtige Botschaft, die wir mit den DESI-Ergebnissen vermitteln können.

Bildung Plus: DESI betont die Wichtigkeit von sprachförderlichen Bedingungen im Elternhaus für die Leistungen in der englischen Sprache sowie von kulturellen Ressourcen der Familie für die Leistungen in der deutschen Sprache. Wie können solche förderlichen Bedingungen für Englisch und Deutsch im Familienalltag konkret aussehen?

Eckhard Klieme: Konkret bedeutet das, bezüglich der Fähigkeiten in Deutsch, dass die Auseinandersetzung mit Sprache auch in der Familie stattfindet. Eltern sollten darauf achten, wie ihre Kinder sich ausdrücken. Sie sollten ihnen Texte vorlesen oder über Zeitungen und Bücher sprechen. Hinsichtlich der englischen Sprache bedeutet es, dass in der Familie zum Beispiel über englische Musiktexte geredet wird oder englische Internettexte gemeinsam übersetzt werden - das sind typische Gelegenheiten.

Mir ist bewusst, dass dies alles Beispiele sind, die in bildungsnahen Elternhäusern eher gepflegt warden können. Auch die Möglichkeiten, bewusst mit Sprache umzugehen, sind natürlich gebunden an die sozialen Verhältnisse im Elternhaus. Aber die wichtige Botschaft ist, es kommt nicht primär auf den soziökonomischen Hintergrund an, auf den Besitzstand, sondern es sind diese kulturellen Inhalte, die sprachliche Fähigkeiten fördern. Es ist insofern eine Aufforderung an alle Elternhäuser, im Rahmen der Möglichkeiten diese Unterstützung zu bieten.
 
Bildung Plus: Schulen, deren Leiter über eine enge Zusammenarbeit zwischen Elterhaus und Schule berichten, konnten "stärkere Leistungszuwächse erzielen als andere Schulen, und zwar unabhängig von der Schulart und Schichtzugehörigkeit der Eltern", heißt es in der Studie. Könnte über eine intensivere Zusammenarbeit von Schulen und Eltern der sozialen Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern entgegengewirkt werden?

Eckhard Klieme: Ja, das Interessante ist, dass es die Schule selbst ist, die auf Eltern zugehen kann und muss. Das können Schulen jeder Schulart machen, unabhängig davon, aus welchen sozialen Schichten die Eltern kommen. Es ist also eine aktive Elternarbeit gefragt. Die Eltern sollten zur Mitwirkung am Alltag der Schule eingeladen werden - in Gremien, aber auch bei Festen und Veranstaltungen. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Eltern am Unterricht teilnehmen zu lassen. Auch der möglichst enge Kontakt im Austausch über den Lernfortschritt der Schüler - nicht nur zwei Mal im Jahr am Elternsprechtag - käme den Schülern zugute. All das sind Angebote, die viele Schulen schaffen können und die viele Schulen tatsächlich auch schaffen, unabhängig davon, ob sie es mit bildungsnahen oder bildungsfernen Elterhäusern zu tun haben.

Bildung Plus: Weshalb schneiden besonders die Hauptschulen derartig schlecht bei den Leistungstests in Englisch ab?

Eckhard Klieme: Wir wissen inzwischen aus verschiedenen Schulleistungsstudien, dass Hauptschulen ein besonders schwieriges Klientel haben. Sie haben Schüler, die häufig eine Misserfolgsgeschichte hinter sich haben. Misserfolge gibt es oft schon in der Grundschule oder durch Abstieg aus anderen Schulformen. Dass der Leistungsrückstand gerade im Englischen so groß ist, hat vielleicht damit zu tun, dass der Englischunterricht an den Hauptschulen keine lange Tradition hat und dass auch immer noch relativ viel fachfremd unterrichtet wird. Hier unterrichten oft Lehrkräfte, die weniger Kontakt zum englischen Sprachraum haben. Im Hauptschulbereich müsste insofern etwas an der Ausbildung der Englisch-Lehrkräfte getan werden. Auch die Fachdidaktik und die Schulbuchverlage sind gefordert, andere Unterrichtskonzeptionen für den Sprachunterricht an der Hauptschule zu entwickeln.
 
Bildung Plus: Erfolgreicher Deutschunterricht steht laut DESI nicht unbedingt mit der Vielfalt der didaktisch-methodischen Ansätze in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Wichtigkeit, die Sprache für Lehrer hat. Was macht einen sprachbewussten Lehrer beziehungsweise Unterricht aus?

Eckhard Klieme: Den Begriff "sprachbewussten Unterricht" haben wir benutzt, um ein Wahrnehmungsurteil zusammenzufassen, das wir bei den Schülern aufgenommen haben. Es geht um Aussagen wie: "Unser Lehrer achtet darauf, dass wir uns angemessen ausdrücken. Unser Lehrer achtet darauf, dass wir grammatikalisch korrekt sprechen. Unser Lehrer achtet auf Rechtschreibung". Legen Lehrer auf diese Basiskompetenzen Wert und signalisieren dies den Schülern, sind die Lernzuwächse stärker. Selbstverständlich ist im Deutschunterricht auch das Verständnis für literarische Zusammenhänge, für Kultur oder die Fähigkeit sich in einer Gesprächssituation einzubringen, zu argumentieren usw. wichtig.

Bildung Plus: Was die Qualität des Englischunterrichts betrifft, stellte sich die Wichtigkeit des Hörverständnisses heraus. Aber auch, dass der durchschnittliche Englisch-Lehrer doppelt so viel spricht als alle Schüler zusammen. Was könnte, außer dem Appell an die Lehrer, die Schüler öfter zu Wort kommen zu lassen, zu einer besseren Berücksichtigung dieses Aspektes beitragen?

Eckhard Klieme: Man könnte Unterrichtsmethoden einführen, die zu einem häufigeren Sprechen der Schüler führen, zum Beispiel über Rollenspiele und Debattensituationen. Der Lehrer sollte versuchen, Situationen herzustellen, in denen Schüler aufeinander reagieren müssen. Eine weitere Möglichkeit wäre es, ausführlich und selbstständig antworten zu lassen. Vielleicht hilft es, mit interessanterem, vielseitigerem Material zu arbeiten, zum Beispiel mit Musik, über deren Texte man reden kann. Auch authentisches Material des Alltags bietet meist hervorragende Sprechanlässe.

Bildung Plus: Lediglich zwei Drittel aller deutschen Neuntklässler verstehen so gut Englisch, wie es die so genannten Bildungsstandards für Hauptschüler verlangen. Von den Hauptschülern selbst erreicht nur jeder dritte dieses Leistungsniveau. Das Ergebnis zeigt, dass die von den Kultusministern beschlossenen nationalen Bildungsstandards, zumindest auf den untersuchten Gebieten, meilenweit von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Schüler entfernt sind. Welche Instrumentarien kann man den Ländern an die Hand geben, um diese Kluft zu schließen?

Eckhard Klieme: Ob der Abstand meilenweit ist oder - um in Ihrem Bild zu bleiben - vielleicht nur einige Meter weit, das muss erst noch festgestellt werden. Die Kultusministerien haben ja so genannte Regelstandards festgelegt. Regelstandards haben auch etwas Unbestimmtes, und die Frage, wie weit die Quote von einem Drittel der Hauptschüler, die diesen Regelstandard erreichen, von der Erwartung entfernt ist, muss erst noch beantwortet werden. Dazu müsste man etwas klarer bestimmen, welche Erfolgsquote man mit dem Regelstandard assoziieren möchte.

Unstrittig ist, dass das Ergebnis nicht befriedigen kann. Es entspricht sicherlich nicht den Erwartungen, die sich die Autoren der Bildungsstandards gesetzt haben. Um dem zu begegnen, sind sehr vielfältige Maßnahmen in der Lehrerbildung und im Unterricht angebracht. Ich würde der Kultusministerkonferenz nicht empfehlen, die Standards und damit die Leistungsziele herunterzugehen, aber für die schrittweise Entwicklung der nächsten Jahre brauchen wir realistische Perspektiven.


Zur Person:
Prof. Dr. Eckhard Klieme (Jahrgang 1954) ist seit 2001 Leiter der Arbeitseinheit "Bildungsqualität und Evaluation" am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) sowie Inhaber der C4 - Professur für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Franfurt am Main. Im Juni 2004 wurde er zum Direktor des DIPF gewählt. Er gehört dem Herausgeberkollegium der Zeitschrift für Pädagogik an und ist Sprecher der Arbeitsgruppe für empirische Bildungsforschung (AEPF). Eckhard Klieme erwarb Diplome in Mathematik und Psychologie an der Universität Bonn und promovierte dort mit einer Arbeit zum Thema "Mathematisches Problemlösen als Testleistung". Von 1983 bis 1997 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Test- und Begabungsforschung der Studienstiftung in Bonn, 1998 bis 2001 war er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig. Im Jahr 2000 habilitierte er sich mit Forschungsarbeiten zu Diagnose und Förderung fachbezogener und fächerübergreifender Kompetenzen an der Freien Universität Berlin für Erziehungswissenschaften.

Projekte:
Er leitet mehrere Forschungsprojekte am DIPF, unter anderem die DESI-Studie, eine Untersuchung zu Lernbedingungen und Lernerfolgen deutscher Schüler in den Fächern Deutsch und Englisch, sowie die DFG-Studie "Pythagoras" über die Qualität von Mathematikunterricht in Deutschland und der Schweiz. Am PISA-Programm war und ist er als Mitglied der nationalen Konsortien für PISA 2000 und 2006 sowie als Mitglied der nationalen und der internationalen Expertengruppe "Problemlösen" für PISA 2003 beteiligt.

Dossier zu des Ergebnissen von DESI

Zentrale Befunde der Studie. 
Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Zentrale befunde der Studie Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International (DESI)

Zusammenfassung zentraler Ergebnisse

Pressemitteilung der KMK 

Bayern
Das gegliederte Schulsystem beschert einen besseren Lernerfolg als die Gesamtschule Bayerisches Kultusministerium: DESI-Studie trifft keinerlei Aussagen zu den Schulen in einzelnen deutschen Ländern

Hessen
"Ergebnisse der DESI-Studie sind eine kräftige Backpfeife für Befürworter der Einheitsschule"

Niedersachsen
Busemann: "Lernerfolge durch klare Anforderungen"

GEW, 03.03.2006
"Aufstieg fast ausgeschlossen"

GEW, 03.03.2006   
DESI - Plädoyer für kleinere Klassen

VBE, 03.03.2006
DESI - noch ein Wink mit dem Zaunpfahl!

Berliner Zeitung, 04.03.2006
Migranten lernen leichter Englisch

BR-online 
Deutsch und Englisch auf dem Prüfstand

Neues Deutschland, 06.03.2006
Standesdünkel

RP online, 05.03.2006
Sommer will vor allem die Hauptschule stärken

Spiegel-online,02.03.2006
English? No way

Der Tagesspiegel, 02.03.2006
Neue Leistungsstudie "Desi": Ein Lehrer redet doppelt so viel wie alle Schüler zusammen

Der Tagesspiegel, 28.02.2006
Vor der neuen Schulleistungsstudie "Desi": Wissenschaftler kritisiert fehlende Gerechtigkeit im Englischunterricht

WAZ, 05.03.2006
Schlussfolgerungen aus Desi: When English a Fremdword is - Kommentar von Ulrich Reitz

Die Welt, 02.03.2006
Heftige Reaktion auf Bildungsstudie Desi - Forderung nach Ausbau der Hauptschule

Die Welt, 01.03.2006
Deutschkenntnisse entscheiden über Erfolg im Englischunterricht

Die Zeit, 09.03.2006
Oft sind Lehrer zu ungeduldig

Die Zeit, 02.03.2006
Wissenschaftler debattieren darüber, wann das kindliche Gehirn reif für eine Fremdsprache ist

Autor(in): Katja Haug, Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 03.04.2006
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