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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 12.05.2005:

"Die Ausbildung verweigert Lehrerinnen und Lehrern das erforderliche Handwerkszeug."

Über integrativen Unterricht und Konsequenzen für die Lehrerbildung
Das Bild zum Artikel
Dr. Sabine Knauer

Bildung PLUS: Integrativer Unterricht ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen besuchen überwiegend die Sonderschule. Wo sehen Sie die Vorteile des integrativen Unterrichts gegenüber dem Unterricht in einer Sonderschule?

Knauer: Die ersten Sonderschulen wurden vor über einhundert Jahren gegründet, also unter gänzlich anderen gesellschaftlichen und schulischen Bedingungen, Grundannahmen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Damals meinte man, "Defekte" bei Kindern und Jugendlichen durch pädagogische "Spezialbehandlung" beheben zu können. Natürlich darf, wenn man die Geschichte bemüht, nicht verschwiegen werden, dass Sonderschulen Kindern mit schweren Sinnes- und körperlichen Beeinträchtigungen überhaupt erst einen Zugang zu öffentlicher Bildung ermöglichten. Dies ist ebenso als Verdienst zu würdigen wie die hervorragende pädagogische Arbeit, die viele Sonderschulen bis heute leisten. Anders stellt sich allerdings die Situation der Schülerinnen und Schüler dar, die den Leistungsnormen und disziplinären Erwartungen der Regelschule nicht genügen können. Sie behinderten den gleichschrittigen Fortgang des Unterrichts, zumal in Klassen von 50 und mehr Schülerinnen und Schülern. Die Lehrkräfte waren überfordert und sahen in der Sonderschule eine Entlastungsmöglichkeit. Dies ging jedoch zu Lasten der Kinder, die als lern-, sprach- oder verhaltensauffällig stigmatisiert wurden. Übrigens sahen das interessanterweise die Kritiker des Sonderschulwesens schon damals genauso.

Dass die Erfindung der Sonderschule ein Irrtum war, ist heute nicht mehr zu übersehen: Sie hat ihr Versprechen, die Kinder und Jugendlichen effizienter zu fördern, nicht einlösen können. Dazu braucht nicht einmal auf die unrühmliche Rolle der Sonderpädagogik im Dritten Reich verwiesen zu werden. Sitzenbleiber-Elend gibt es auch in der Sonderschule und die Chancen von Sonderschulabgängern auf dem Ausbildungssektor gehen Richtung Null.
Die Sonderschule war und ist vor allem eine Schule der sozialen Negativauslese. Und allmählich, ausgelöst von den PISA-Ergebnissen, wird eindeutig erkennbar, dass Deutschland sich das ohnehin kostspielige Sonderschulwesen auch aus Gründen gesellschaftlicher Nachhaltigkeit nicht leisten kann.

Vor diesen Hintergründen liegen die Vorteile integrativen Unterrichts, oder besser der nicht aussondernden Schule, auf der Hand: Sie bestehen in der Überwindung der genannten Effekte. Die Pädagogik erhält dabei auf einmal Flankenschutz von einem unerwarteten Partner: der Wirtschaft.

Bildung PLUS: Wie sieht gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen an nicht aussondernden Schulen aus?

Knauer: Gemeinsamer Unterricht stellt, wenn er seinem Anspruch gerecht werden will, gerade nicht die Beeinträchtigungen in den Vordergrund. Gemeinsamer Unterricht lebt aus der Spannung von Gemeinsamkeit und Individualisierung. Alle Schülerinnen und Schüler können etwas zum gemeinsamen Thema beitragen, auf sehr unterschiedliche Weise und auf sehr unterschiedlichem praktischen oder Abstraktionsniveau.
Während der Schultag von gemeinschaftlichen Aktivitäten gerahmt ist, folgt der Unterricht selbst den unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler. Ein vielseitig eingerichteter und ausgestatteter Klassenraum bietet vielfältige Lernanreize, jedes Lernniveau wird angesprochen, Neugier und Lernfreude werden geweckt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten wahlweise allein, mit einem Partner oder in Kleingruppen, beginnen mit Lesen, Schreiben oder Rechnen - meinetwegen auch mit Geschichte, Englisch oder Deutsch - verweilen bei einer Aufgabe, solange ihre Konzentration reicht oder bis die Fragestellung gelöst ist - und sie führen Buch über ihre Lernfortschritte. Und Fortschritte macht jeder - nur manchmal sind sie offensichtlich und oft kaum sichtbar.
Lernen entzieht sich der direkten Beobachtung. Umso mehr Beobachtungsfähigkeit ist erforderlich, um die unterschiedlichen Lernverhaltensweisen zu erkennen, zu verstehen und zu fördern. Das wird im curricular strukturierten Unterricht allzu oft vergessen.

Bildung PLUS: Sind die Lehrkräfte hierzulande dafür ausgebildet, integrativen Unterricht durchzuführen?

Knauer: Deutsche Lehrkräfte sind und werden dafür ausgebildet, Fächer zu unterrichten. Integrativer Unterricht stellt aber nicht das Fach, sondern die Adressaten, also Schüler und Schülerinnen in den Mittelpunkt. Die Ausbildung verweigert Lehrerinnen und Lehrern das erforderliche Handwerkszeug. Auch in den neuen, modularisierten BA- und MA-Studiengängen kann ich in dieser Hinsicht keine wirklichen Verbesserungen erkennen. Die Sonderschulpädagogik wird in ihnen, im Gegenteil, als eigene Säule festgeschrieben. Um ehrlich zu sein: Ich sehe hier in Umkehrung des Sprichworts viel alten Wein in neuen Schläuchen.

Bildung PLUS: Wie wird das Unterrichten in integrativen Klassen zurzeit in der Lehrerbildung berücksichtigt?

Knauer: In einigen Bundesländern gibt es integrationspädagogische Seminare als fakultatives, in einigen wenigen als obligatorisches Angebot. Und in der Lehrerweiterbildung ist die Integrationspädagogik zum Teil auch verankert. In dieser Form, wo neben dem "Ausländerschein" auch der "Behindertenschein" erworben werden kann oder muss, wird jedoch der eigentlichen Fragestellung in keiner Weise Rechnung getragen, sondern es handelt sich um ein Zugeständnis der Bildungsverwaltungen in der Hoffnung, eine Modewelle zu überstehen - also, um ein Foucaultsches Befriedungsverbrechen.

Bildung PLUS: Was müsste sich in der Lehrerbildung ändern, um zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auf den Unterricht in heterogenen Klassen optimal vorzubereiten?

Knauer: Die Lehrerbildung müsste vermitteln, dass es in der Schule um Schülerinnen und Schüler und um unsere Kultur geht. Beides zusammenzubringen sollte Aufgabe der Schule sein. Daraus leiten die einzelnen Unterrichtsfächer erst ihre Berechtigung ab. Und Lehrkräfte sollten in erster Linie etwas können und wissen, nicht nur eine Idee haben, wie man anderen Wissen vermittelt. Ich habe große Probleme mit unserer elaborierten Fachdidaktik, die immer vorgibt zu wissen, wie etwas gelernt werden kann oder darf. Lehrerbildung müsste erstens Freude vermitteln am Umgang mit jungen Menschen, zweitens exemplarisch erfahren lassen, wie schwierig es ist, Neues zu lernen und drittens Erfahrungen und Können aus außerschulischem und außeruniversitärem Leben fest einbinden.

Bildung PLUS: Wie äußern sich die Schulen und die Lehrkräfte? Befürworten sie die Einführung integrativen Unterrichts oder gibt es Widerstände?

Knauer: Lassen sie mich das Pferd von hinten aufzäumen: Schulen und Lehrkräfte beklagen zunehmend ihren Rollenwandel vom Gestalten zum Verwalten und die damit verbundene Ver(sch)wendung ihrer Kräfte auf nicht pädagogische Aufgaben. Und selbstverständlich gibt es erhebliche Vorbehalte gegen eine umfängliche Integration von Seiten der Sonderpädagogik. Auf der anderen Seite habe ich erlebt, welche Ausstrahlungskraft auf den pädagogischen Impetus die Integrationspädagogik sowohl auf Studierende als auch auf gerade nicht mehr ganz junge Lehrerinnen und Lehrer ausübt, so dass sich Schulen vollkommen ändern. Wenn das augenblickliche Nachdenken über unser Bildungssystem nicht in kosmetischen Korrekturen stecken bleiben soll, müssen wir wohl die Strukturfrage stellen - zugegeben nicht ganz modern. Die vom Kanzler als "faule Säcke" gescholtenen Lehrerinnen und Lehrer bekommen dann augenscheinlich noch einmal richtig Spaß an ihrem Beruf, denn sie entdecken ihre ursprünglichen Erwartungen an ihr Selbst- und Berufsbild wieder.

Bildung PLUS: Und wie reagieren die Kinder auf den Unterrichtsstil?

Knauer: Kinder sind erleichtert! Wenn die Bedrohung entfällt, bei Versagen einen Platzverweis zu erhalten, wenden sie sich mit Lust und Begeisterung Neuem zu. Das gilt im Übrigen ausdrücklich auch für Kinder ohne Beeinträchtigungen. Mit dem integrativen Unterricht stehen natürlich konsequenterweise Zensuren und Versetzungen zur Disposition - Maßstab sind die individuellen Leistungsfortschritte. Gemeinsamer Unterricht versucht, die lebensweltlichen Fragen der Kinder aufzuspüren und aufzugreifen. Wir wissen heute: Lernen ist ein elementares Lebensbedürfnis - und überdies: Lernfreude und Wissbegier sind essenzielle Voraussetzungen für die Wissensgesellschaft. Wenn Vergleich und Vergleichbarkeit von Schülerinnen und Schülern im Unterricht keinen Raum mehr haben, wenn es zugeht wie im "echten" Leben, wenn der Gemeinsamkeit zuträgliche Verhaltensweisen der Maßstab für Anerkennung werden, erübrigt sich auch die Diskussion um ein Unterrichtsfach wie Werteerziehung. Kinder spüren, ob sie Ernst genommen werden und ob Erwachsene authentisch sind.

Bildung PLUS: Welche persönlichen Erfahrungen mit integrativem Unterricht haben Sie gemacht?

Knauer: Persönlich hat mir integrativer Unterricht die Erfahrung vermittelt, authentisch zu handeln. Vorher hatte ich bei allem Fördern hier, Fordern dort, Überprüfen und Auslesen immer das Gefühl, im Sinne eines imaginären Dritten zu agieren, wohl begründet und abgefedert durch das System, aber irgendwie blieben mir die Kinder unerreichbar. Das hat sich mit dem gemeinsamen Unterricht grundlegend verändert. Die Vorbereitungen waren zwar am Anfang gewaltig, das nahm aber ab und dafür war der Unterricht viel weniger anstrengend. Ich musste ja nicht immer alle im Blick haben, gucken, ob auch jeder aufpasst, ermahnen, wenn jemand schwatzt usw. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation: Alle Kinder arbeiteten und ich saß am Pult (welches im Übrigen nicht vorn vor der Klasse stand) und korrigierte. Ein Kind rief laut nach mir, worauf ein anderes einschritt und sagte: "Siehst du denn nicht, dass Frau Knauer arbeitet?" Jahre zuvor hatte mich einmal eine Schülerin gefragt, ob ich denn auch arbeite ...
Auch das Verhältnis zu meinen Kollegen, die Kooperation hat sich vollständig verändert. Wenn man gemeinsam unterrichtet, ist man als Person ganz anders gefordert. Doch das ist ein weiterführendes Thema.


Dr. Sabine Knauer, Jahrgang 1951, ist Grund-/Haupt- und Sonderschullehrerin, Sozialpädagogin, Mitarbeiterin im Schulpsychologischen Dienst, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Integrationspädagogik der FU Berlin, freiberufliche Erziehungswissenschaftlerin und Mutter. Unter anderem hat sie gemeinsam mit Hans Eberwein das Handbuch "Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam" herausgegeben.
Derzeit arbeitet sie auch als wissenschaftliche Beraterin im Programm "Ideen für mehr. Ganztägig lernen" der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 12.05.2005
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