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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 14.10.2004:

Geschlechtsbewusst zur Leselust

Jungen erlangen Lesekompetenz anders als Mädchen
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Quelle: Lesende III, von René Graetz

Jahrzehntelang appellierten Expertinnen und Experten aus verschiedenen Richtungen, dass Mädchen hinsichtlich ihrer naturwissenschaftlichen Fähigkeiten und Ausrichtungen gefördert werden müssten. Spätestens nach PISA sind nun die Jungs dran: 80 Prozent der Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwäche sind männliche Jugendliche. Geschlechterdifferente Förderung, die auch Jungen mit ihren spezifischen Schwächen berücksichtigt, ist in aller Munde.

Aber was will der Begriff „Lesekompetenz“ eigentlich ausdrücken? Im Sinne der PISA-Studie ist Lesekompetenz mehr als einfach nur lesen können. Dort wird darunter die Fähigkeit verstanden, Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen, sie in einen größeren Zusammenhang einordnen und sachgerecht nutzen zu können. Somit ist Lesekompetenz eine Voraussetzung für die Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben.

Gibt es ein lesefaules Geschlecht?
Lesen und vor allem das Lesen von Büchern ist und war immer schon Frauensache. Und die PISA-Studie hat belegt, was Unterrichtende im Schulalltag jeden Tag erfahren: Sprach-, Lese-, und Schreibkompetenz sind bei Mädchen und Jungen sehr unterschiedlich ausgeprägt. So ist der Vergleichsstudie zu entnehmen: „Die größten und konsistentesten Geschlechterunterschiede sind im Bereich Lesen zu beobachten. In allen PISA-Teilnehmerstaaten erreichen Mädchen hier signifikant höhere Testwerte als die Jungen. In Mathematik lassen sich Leistungsvorteile für die Jungen feststellen, diese sind jedoch deutlich kleiner.“ Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass der Leistungsvorsprung der Mädchen im Lesen zumindest teilweise auf ihr Interesse und ihre Freude am Lesen zurückzuführen ist.

Woher aber kommt der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen? In Kindergarten und Schule treffen die Kinder überwiegend auf Frauen. Möglicherweise kommt die Auswahl des Lesestoffs daher mehr dem Geschmack von Mädchen entgegen als dem von Jungen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung des – in Kindergärten und Grundschulen weiblichen – Rollenmodells. Einige Experten sprechen sogar von einer Feminisierung des Lernens. „Dem lernenden Jungen kann es sehr wohl so erscheinen, dass Lesen und Schreiben überwältigend weiblich seien“, sagte die britische Forscherin Elaine Millard in „Differently Literate“.

Mädchen lieben Romane - Jungen pure Information?
Gerade weil Jungen oft (noch) denken „Bücher sind etwas für Mädchen“, möchten sie sich - wie von anderem Mädchenhaften - im Laufe ihrer Sozialisation abgrenzen. Wenn Jungen und Männer lesen, dann scheinen sie eher an Fach- und Sachliteratur interessiert zu sein. Mädchen und Frauen hingegen, nach wie vor das als beziehungsorientiert geltende Geschlecht, greifen eher zum Roman.

Dabei bewirkt der unterschiedliche Lesestoff auch ein anderes Leseverhalten. Das an Entwicklungen und Geschichten interessiertes Lesen ist eher kontinuierlich und an gesamten Texten orientiert, das an Informationen orientierte Lesen ist eher selektiv und punktuell. Die Ergebnisse der PISA–Studie zeigen:

· Im Lesen ist der Leistungsvorsprung der Mädchen bei kontinuierlichen Texten (z.B. Erzählungen, Argumentationen und Darlegungen) besonders ausgeprägt.

· Bei nichtkontinuierlichen Texten (z.B. Formularen, Anzeigen, Tabellen und Graphiken) sind sehr viel geringere Geschlechterunterschiede festzustellen.

· Auch im Hinblick auf die Anforderungen an den Umgang mit Texten zeigen sich spezifische Unterschiede: Im Vergleich zu Mädchen bereitet es Jungen deutlich größere Schwierigkeiten, Texte und ihre Merkmale kritisch zu reflektieren und zu bewerten.

Vorsicht: starre Rollenbilder
Margit Böck, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, vermeidet bewusst die gängigen Begriffe der Unterhaltungs- und Informationsorientierung, „um die übliche Charakterisierung weiblicher und männlicher Lesevorlieben, und die darin eingeschriebenen Bewertungen nicht fortzuschreiben - ‚Emotionales’ als das Weibliche und Mindere, ‚Sachliches’ als das Männliche und Wichtige“.

Als Kontext der unterschiedlichen und starren Ausrichtung der Geschlechter identifiziert sie diebestehende Arbeitsteilung, die Frauen für die „private Reproduktionsarbeit“ zuständig mache und Männer für die „öffentliche Produktionsarbeit“, sei der zentrale Kontext für die unterschiedliche und starre Ausrichtung der Geschlechter. Doch auch bei anderen Medien als dem Buch zeigen Mädchen und Jungen „typische“ Vorlieben.

Leben in unterschiedlichen Medienumgebungen
Weder das Wiederholen veralteter Rollenvorstellungen noch Gleichmacherei sind angesagt. So leben Mädchen und Jungen nun einmal in unterschiedlichen Medienumgebungen: Während Mädchen mehr Bücher besitzen, verfügen Jungen über deutlich mehr Neue Medien. „Beim Fernsehen zeigen sich die Geschlechterdifferenzen weniger im Zeitaufwand, sondern vielmehr in den Sendungsvorlieben – Sport bei den männlichen, Vorabendserien und Soaps bei den weiblichen Jugendlichen“, sagt Dr. Margit Böck als Mitarbeiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.

Allgemein stehen Mädchen den schriftlich dominierten Medium näher und männliche Jugendliche den visuell dominierten Bildschirmmedien, wobei auch hier der Faktor „Medientechnik“ eine wesentliche Rolle spielt. Als unverzichtbares Medium nimmt der Computer bei männlichen Jugendlichen im Jahr 2002 vor den Fernseher den ersten Platz ein.

Die unterschiedlichen Vorlieben von Mädchen und Jungen für die Kommunikationsmodi Schrift und Bild sind ein bislang vernachlässigtes Gebiet in der geschlechtsbewussten Förderung der Lesekompetenz. Um auch den Neigungen von Jungen entgegenzukommen, könnten Lehrerinnen und Lehrer beim Umgang mit Texten im Unterricht beispielsweise Computer stärker zum Einsatz bringen.

Gender-Ansatz als Fundament
Was tun, wenn bei der Vermittlung von Lesekompetenz keine Rollenklischees wiederholt werden sollen und wenn ein gleichmacherischer Ansatz ebenso falsch ist?  Oft genug wurde versucht, ausgehend von einer Defizithypothese, Mädchen einseitig an die Kompetenzen von Jungen anzugleichen. Unter anderem im Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung wurden und werden die spezifische Herangehensweisen und Lernwege von Mädchen häufig ignoriert. Anders als beim Defizitansatz werden beim Differenzansatzbeide Geschlechter in den Blick genommen. Das heißt, Mädchen und Jungen haben unterschiedliche Stärken und können voneinander lernen.

Nötige Voraussetzung bei den Vermittlerinnen und Vermittlern, um dieses gemeinsame Vorgehen realisieren zu können: Einblick in die gesellschaftliche Bedeutung von „Gender“. Dieser Begriff, zu deutsch Geschlecht, wird seit den siebziger Jahren zunehmend verwendet. Er soll es erleichtern, die soziale Konstruiertheit von „Geschlecht“, aber auch Zuschreibungen an „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ bewusst zu machen.

Dabei unterscheiden Forscher zwischen dem „biologischen Geschlecht“ (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender). Mit dieser begrifflichen Operation ist es sehr viel einfacher, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Vorstellungen über „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ nicht von der Natur vorgegeben, sondern im gesellschaftlichen Zusammenleben entstanden sind. Dieses Bewusstsein ist eine Voraussetzung dafür, den aus geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Wertungen entstehenden Benachteiligungen langfristig entgegenzuwirken.

Geschlechtsensible Sprache entmachtet Stereotypen
Sprache bildet Bewusstsein. Daher ist eine geschlechtergerechte Wortwahl von Lehrenden von nicht zu vernachlässigender Wichtigkeit. Ein Unterricht, der geschlechterdifferent fördert, sollte auch und gerade im Hinblick auf die Lesekompetenz sprachlich und inhaltlich geschlechtssensibel sein. Denn offensichtlich stehen festgefahrene Rollenbilder den Mädchen und Jungen auch beim Lernen und insbesondere auch beim Lesen im Wege.

Frauen und Männer, Mädchen und Jungen orientieren sich mehr oder minder an verinnerlichten Erwartungen und Bildern von Geschlechterrollen – eine Tatsache, die die Formulierung „doing gender“ meint. Durch das „doing gender“ in unserem alltäglichen Handeln reproduzieren wir gesellschaftliche Rollenbilder und setzen sie fort. In Forschung und Lehre werden jedoch zunehmend diese Rollenbilder hinterfragt und eine langfristige Veränderung anvisiert. Es geht darum, diesen Festschreibungen für Mädchen und Jungen entgegenzutreten und Sensibilisierungsprozesse anzuregen.

Wie gestalten Lehrende einen geschlechtersensiblen Unterricht? Sie sollten in ihrer Sprache auch Mädchen und Frauen „sichtbar“ machen. Dr. Margit Böck von der Universität Wien empfiehlt: „Sie müssen nicht ununterbrochen die weibliche Form verwenden, oder das große I aussprechen, machen Sie es sich zur Gewohnheit, regelmäßig von der weiblichen Form Gebrauch zu machen.“ Sinnig sei auch, die Schülerinnen und Schüler nach Referaten darauf aufmerksam zu machen, dass „nicht nur Männer und Buben auf der Welt sind“, sondern auch Frauen und Mädchen.“ Lehrerinnen und Lehrer sollten Unterrichtsbücher, die keine geschlechtsensiblen Formulierungen beinhalten, vermeiden oder – wenn dies nicht möglich ist - die Schüler und Schülerinnen zumindest darauf hinweisen.

Fördermaßnahmen für Mädchen und Jungen
Die „Geschlechtssensibilität“ des Unterrichts sollte sich jedoch nicht auf die Sprachwahl beschränken, sondern darüber hinaus auch auf die bestehenden Lebenswelten und Vorlieben von Mädchen und Jungen eingehen und den Prozess des „voneinander Lernens“ unterstützen. Um die eher buchfernen Jungen fürs Lesen zu begeistern, ist es sinnvoll, eigens für Kinder und Jugendliche geschriebene, ihre Interessen in den Mittelpunkt rückende sachorientierte Texte verstärkt in den Unterricht zu integrieren. Pädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrerinnen und Lehrer, die sich für eine geschlechterbewusste Förderung von Lesekompetenz einsetzten möchten, finden hier eine Anregung, welche Aspekte besonderen Augenmerk verdienen.

Bei Jungen müsste besonders geachtet werden auf:

· die Fähigkeit, flüssig zu lesen,
· die Konfrontation mit kontinuierlichen Texten,
· die Fähigkeit, sich durch Lesen Welten zu erschließen und diese auch mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen,
· ein geeignetes Angebot an Büchern, das bereitgestellt werden sollte, um das Leseinteresse zu wecken.

Bei Mädchen könnte die Aufmerksamkeit gelenkt werden auf:

· Die Strukturierung von Informationen, auf eigenen Beiträge sowie auf die modellhafte Darstellung von Sachverhalten.
· häufigen Umgang mit Sachtexten
· die Beurteilung von Informationen und Meinungen,
· das Analysieren und Darstellen von Informationen, vor allem aus abstrakten und nichtkontinuierlichen Texten.

Gemeinsame Ziele für Jungen und Mädchen:

· Unterstützung des korrekten und differenzierten Ausdrucks im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch,
· Analysieren, Erfassen und Wiedergeben von komplexen Textinhalten,
· Auseinandersetzung mit diversen Wertvorstellungen und Weltdeutungen.

Ansätze für eine  geschlechtergerechte Schulpraxis
Einige europäische Länder haben den Ergebnissen der PISA-Studie bereits Rechnung getragen. Schon vor PISA, bereits im Jahr 1998,  hat beispielsweise Schweden Gender Mainstreaming verbindlich eingeführt. Auch die Schweiz hat schon im Jahre 1997 dazu aufgefordert, geschlechterbewusste Pädagogik zwingend im Schulalltag umzusetzen. Im Deutschunterricht soll eine geschlechtergerechte Sprache gelehrt und gesprochen werden und in allen Klassenräumen sollen geschlechtergerechte Wörter- und Sprachbücher stehen.

Und auch in Deutschland bewegt sich langsam etwas: So ist in den „Zentralen Konsequenzen aus PISA 2000 für die Realschule in Baden-Württemberg“ zur Lesekompetenz zu lesen: „Deutsch als Unterrichtsprinzip wird in allen Fächern verwirklicht: Der Umgang mit nichtkontinuierlichen und pragmatischen Texten ist im Deutschunterricht verankert, auch um die geschlechtsspezifisch unterschiedlich Lesegewohnheiten auszugleichen.“ - Gute Botschaften, sowohl für das „leseschwächere“ als auch für das „lesestärkere“ Geschlecht ... 

Autor(in): Katja Haug
Kontakt zur Redaktion
Datum: 14.10.2004
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