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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 15.07.2004:

"Bildungsprozesse finden nicht nur in der Schule statt"

Prof. Dr. Rauschenbach über die Bedeutung non-formaler und informeller Bildungsorte
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Prof. Dr. Thomas Rauschenbach

Bildung PLUS: Herr Prof. Dr. Rauschenbach, Sie haben zusammen mit Kollegen im Auftrag des BMBF "Konzeptionelle Grundlagen für einen nationalen Bildungsbericht - Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter" entworfen. Warum ist es wichtig, diese Daten in einen jährlich erscheinenden nationalen Bildungsbericht einzubeziehen?

Rauschenbach: Lern- und Bildungsprozesse kennen keine zeitliche, räumliche Begrenzung und finden nicht nur in der Schule statt. Neben Schule, Hochschule und Ausbildung gibt es noch andere Bildungsorte und Lernwelten. Uns geht es darum, diese erst einmal ins Blickfeld zu rücken. Allen voran natürlich die Familie, die Kindertagesbetreuung, die außerschulischen Orte, aber auch die Medien und die Peer-Groups, die Gleichaltrigen, bei denen sicherlich sehr viel mehr an Bildungsprozessen passiert als wir gemeinhin annehmen.

Bildung PLUS: Was kann in Ihren Augen ein solch umfassender Bildungsbericht leisten?

Rauschenbach: Er müsste aus meiner Sicht erst einmal für die Vielfalt, für die Entgrenzung des Lernens sensibilisieren. Bis vor wenigen Jahren galt: Bildungsinhalte, die man fürs Leben braucht, lernt man entweder in der Familie oder in der Schule, und dabei war die Schule auf Wissensvermittlung spezialisiert. Ich glaube, diese einfache Regel gilt so nicht mehr. Moderne Gesellschaften sind sehr viel komplexer geworden. Wir haben und nutzen heutzutage viele zusätzliche Lerngelegenheiten. Wir können via Selbstlernprogramme Sprachkompetenz erwerben, in andere Länder reisen, Volkshochschulkurse belegen und vieles mehr. Der Bildungsbericht soll den Blick zunächst auf diese Breite richten, damit man die Schule nicht länger allein verantwortlich macht.

Bildung PLUS: Welches Gewicht haben non-formale und informelle Bildungsorte im Gegensatz zur Schule? Wie wirken sie sich auf die Kinder und Jugendlichen aus?

Rauschenbach: PISA hat gezeigt, dass die Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in hohem Maße von ihrer sozialen Herkunft abhängt. Allein dies ist ein Indikator dafür, dass offenbar vor und außerhalb von Schule so viel Wesentliches passiert, dass die Schule dies alleine nicht durch Konzepte ausgleichen kann.
Die IGLU-Studie hat offen gelegt, dass beispielsweise die Länge des Kindergartenbesuchs einen signifikanten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit eines Kindes noch am Ende des vierten Grundschuljahres hat. Kinder, die länger als ein Jahr im Kindergarten waren, zeigen deutlich bessere Leistungen als andere. Das gilt insbesondere auch für Kinder mit Migrationshintergrund. Das zeigt doch, dass viele Prozesse in ganz anderen Kontexten und anderen Bildungszusammenhängen passieren als in denen, auf die wir zunächst üblicherweise unseren Blick lenken, wenn wir an Bildung denken.

Bildung PLUS: Sie haben für Ihre Arbeit viele verschiedene Bildungsorte untersucht. Kindergarten, Jugendarbeit, Familie, Peer Groups. Spielen Einzelne eine besondere Rolle?

Rauschenbach: Das können wir noch nicht sagen. Allein die Tatsache, dass wir in dieser Weise diskutieren, ist neu. In der deutschen Jugendforschung der letzten zehn oder zwanzig Jahre hat Bildung überhaupt keine Rolle gespielt. Auf der anderen Seite sind Schulleistungs- und internationale Leistungsvergleichstudien in aller Regel unsensibel gegenüber allen außerschulischen Zusammenhängen. Alle glauben, PISA sei eine Schulstudie gewesen. Sie ist zwar in der Schule durchgeführt worden, und es wurde die Leistungsfähigkeit von Kindern in Themenbereichen abgefragt, die sich faktisch auch um schulische Themengebiete ranken, aber es ist keineswegs gesagt, dass sie das, was sie können, auch in der Schule gelernt haben. Das könnte in der Familie ebenso wie in den Peers, in der Jugendarbeit oder an einem anderen Bildungsort der Fall gewesen sein. Was auffällt ist, dass es Jugendliche mit unterschiedlichen Leistungen im Alter von 15 gibt. Worauf das zurückzuführen ist, wissen wir aber nicht. Die Familie scheint ein wichtiger Bildungsort zu sein, ob sie allerdings direkt etwas damit zu tun hat oder nur indirekt, indem die Familien Kindern beispielsweise in unterschiedlichem Maße Gelegenheiten eröffnen, sich anderweitig zu bilden, ist völlig unklar.
Ich halte es für eine wesentliche politische Aufgabe, sich dieses deutlich zu machen. Deutschland darf sich nicht nur auf das Bildungssystem konzentrieren und alle sonstigen wichtigen Einflussfaktoren außer Acht lassen. So würden möglicherweise folgenreiche Fehlentscheidungen in der Weiterentwicklung des Bildungssystems getroffen.

Bildung PLUS: Vor welche Schwierigkeiten waren Sie bei Ihrer Arbeit gestellt?

Rauschenbach: Also, zunächst waren wir natürlich vor die Schwierigkeit gestellt, eine konzeptionelle Idee zu entwickeln und Belege dafür zu finden. Im Gegensatz zur Schule ist beispielsweise der Kindergarten keine Zwangsinstitution. Also ist allein die Beteiligung, die Nutzung dieser Angebote schon eine wesentliche Frage, weil Sie darin ablesen können, wer bestimmte Angebote nutzt, wer nicht. So besuchen beispielsweise 95 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen, Migrantenkinder eingeschlossen, den Kindergarten. Das heißt für mich im Umkehrschluss, dass die ganze Debatte um ein Pflichtjahr im Kindergarten völlig überflüssig ist, weil damit nicht mehr erreicht werden kann als gegenwärtig auf freiwilliger Basis schon erreicht wird.
Und so kann man Stück für Stück fragen, welche Kinder gehen in die Jugendarbeit, welche Kinder spielen ein Instrument, welche nutzen kulturelle Bildungsangebote, machen Sport oder üben andere Aktivitäten aus, von denen man ausgehen kann, dass sie ihrerseits zu einem Stück Kompetenzerwerb beitragen. Wo Kenntnisse und Informationen fehlen, ist es geradezu eine Herausforderung für Deutschland herauszufinden, welches wichtige Indikatoren wären, um diese in Zukunft zu erheben.

Bildung PLUS: Ein Konsortium unter der Leitung von Prof. Dr. Avenarius hat bereits einen ersten Entwurf für einen nationalen Bildungsbericht vorgelegt, der sich auf die formale Schulbildung konzentriert. Wie können die non-formale und informelle Bildung in ein umfassendes Konzept für eine integrierte Berichterstattung eingebettet werden?

Rauschenbach: Zunächst einmal sollen alle Etappen des Lebens und des Erwachsenwerdens ins Blickfeld gerückt werden, auch die Phase der 0 bis 6-Jährigen. Das ist schon einmal eine Erweiterung des Horizonts. Und wenn wir sagen, alle Etappen des Lebens, dann sind alle Kinder auf einmal nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern eben auch Kinder mit ihren außerschulischen Aktivitäten, ihren Peers und ihren Familien. Diese kann man abbilden, auch wenn noch nicht immer gute Datensätze vorhanden sind. Deren Beschaffung muss in Zukunft auf einer breiteren Ebene ausgebaut werden. Ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang immer wieder zu hören ist und das ich im Prinzip von der Idee her für die richtige Richtung halte, ist ein so genanntes Bildungspendel. Hierbei geht es um den Versuch, eine Stichprobe von Kindern, die repräsentativ für die altersentsprechende Bevölkerung ist, von klein auf im Prozess ihres Aufwachsens zu beobachten und systematisch die nichtschulischen Aktivitäten abzufragen, um somit ihre Entwicklung und Einflussfaktoren stärker ins Blickfeld zu rücken und zu messen als es bislang der Fall war.
Das heißt, der Bildungsbericht wird im Moment eine Bestandsaufnahme des derzeitig Machbaren sein, gleichzeitig ein Stück Vision enthalten, in welche Richtung die Bildungsberichterstattung gehen muss sowie was an anderer Forschung und vielleicht auch an neuen Daten dafür notwendig ist.


Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, seit 2002 Vorstand und Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München. Studium der Erziehungswissenschaft in Tübingen. 1980-1989 Wissenschaftlicher Angestellter im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen; 1981 Promotion. Seit 1989 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Dortmund (beurlaubt seit 2002). Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist derzeit u.a. Vorsitzender der Sachverständigenkommission zum 12. Kinder- und Jugendbericht und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für die Bildungsberichterstattung des Bundes und der Länder.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 15.07.2004
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