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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 18.12.2003:

Wege aus der Misere

Migrantinnen und Migranten in der Sekundarstufe I sind die Verlierer im deutschen Bildungswesen
Das Bild zum Artikel
Teilnehmerinnen der Tagung am 3. Dezember 2003
Bildrechte: Bildung PLUS

Für Ursula Neumann, Universität Hamburg, ist mit der Tagung in Berlin ein "deutlicher Fortschritt" erzielt worden: "An den Projekten, die hier vorgestellt wurden, kann gezeigt werden, in welche Richtung sich das Regelsystem verändern müsste".  Projekte wie die "Spracharbeit im Fachunterricht" vorgestellt von Hintzler oder die Europaschule in Köln "zielen auf die Veränderung von Normalität". Denn diese Projekte würden systematisch alle Bereiche der Schulen verändern, der Normalbetrieb bliebe nicht unberührt davon.

Hamburger Schule der Lehrer
Besonders positiv aufgenommen wurden im Forum III "Neue Ansätze in der Lehreraus- und -fortbildung" die Reformbestrebungen in der Lehrerbildung Hamburgs. Die Arbeitsgruppe "Kulturelle und soziale Heterogenität", eine so genannte "Sozietät", hat ein Portfolio "Kulturelle und soziale Heterogenität" präsentiert. Die Sozietäten sind Arbeitsgruppen, welche die drei Phasen der Lehrerbildung, Studium, Referendariat und Fortbildung zu einem Themenkomplex zusammenschließen.

Damit sollen Lehrerinnen und Lehrer dokumentieren, über welches Wissen und welche Fähigkeiten sie im Laufe ihrer Laufbahn verfügen, um in "heterogenen pädagogischen Zusammenhängen" richtig handeln zu können. Lehrkräfte sollten danach in der Lage sein, "Beiträge zum Abbau von Barrieren zu leisten, die das Bildungssystem für Schülerinnen und Schüler traditionell errichtet hat, die dem Bild vom allgemeinen und normalen Bild nicht genau genug entsprechen". Die Hamburger Arbeitsgruppe fordert, dass die Erziehungswissenschaft den Lehrkräften im Wesentlichen dreierlei vermittelt:

  • Historisches Verständnis
  • Diagnostische Kompetenz
  • Gesellschaftliche Bedingungen pädagogischen Handelns

Diese Aspekte müssen sich im Lehrplan oder genauer im Kerncurriculum niederschlagen. Es soll Normalität werden, anders zu sein, mit Unterschieden und interkultureller Vielfalt im Lehrerkollegium zu leben und nicht gegen sie. Daher soll auch die Lehrerschaft "heterogenisiert" werden, fordert Neumann: Kindern muss klar sein, dass sie von einem italienischen oder türkischen Lehrer unterrichtet werden können - in allen Fächern. 
 
"Leipziger Thesen" oder die Rolle der Jugendhilfe
Übergänge sind häufig kritisch: Vertrautes wird verabschiedet, Neues noch nicht sicher angewandt, besonders wenn die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht wird. Heikel sind auch Übergänge für Migrantinnen und Migranten, die von der Sekundarstufe I in die Berufsausbildung wechseln wollen, in einer Zeit, wo "Blaumann-Berufe" zunehmend rar werden. Im Jahr 2000 haben über 30 Prozent der männlichen Migranten und über 20 Prozent der weiblichen keinen Berufsabschluss. Hier sind nicht mehr nur Lehrerinnen und Lehrer gefordert, sondern Eltern, Jugendhilfe und berufliche Bildung. 

Mit den "Leipziger Thesen" vom 10. Juli 2002 sollen die Übergänge zwischen Schule und Lebenswelt erleichtert werden, die durch "das unkoordinierte Nebeneinander der einzelnen Bildungsinstitutionen" gefestigt werden. Nach Klaus Schäfer, Bundesjugendkuratorium (Fotostrecke), sind über 80 Prozent der Schulen vernetzt, nur 2 Prozent kooperieren gar nicht, scheinbare heile Welt.

Allerdings wirft die Beschaffenheit der Kooperation ein anderes Licht auf die Zusammenarbeit Schule und gesellschaftliche Institutionen. Denn meist sind die Kooperationen auf einen Einzelfall beschränkt, selten systematisch und so gut wie immer auf "den Zweck von Schule gerichtet". Wenn dem so ist, dann handelt es sich um eine ungleiche Partnerschaft. In psychologischer Sprache gesprochen: Schulen verhalten sich in Hinsicht auf außerschulische Partner "narzisstisch", weil sie dazu neigen, die bestehenden Kooperationen "sehr auf sich bezogen zu sehen". Die Veränderung dieser Einstellung ist vor allem durch einen "erweiterten Bildungsbegriff" zu erwarten. Netzwerke mit anderen Einrichtungen ersetzten zwar keine formale Bildung, wie sie Schule bietet, doch sie "ergänzen" sie.

...und Ganztagsschulen
Ganztagsschulen eignen sich besonders dazu, die formale Bildung - am Ort der Schule selbst - zu ergänzen. Um ein buntes und breites Angebot einrichten zu können, das den Wünschen möglichst vieler Schülerinnen und Schüler entgegen kommt, sind die Ganztagsschulen geradezu gezwungen, auf der Suche nach passenden Partnern die Blicke nach außen zu werfen - Öffnung von Schule wird hierbei zum Teil des Schulbetriebs.

An vielen Ganztagsschulen gibt es bereits Projekte, die auf die neuen Anforderungen der Berufswelt vorbereiten. Petra Jung, Bundesministerium für Bildung und Forschung, benennt die wichtigsten Vorzüge der Ganztagsschulen zur Förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Neue Unterrichtsformen durch eine Pädagogik der Vielfalt, Stärkung des gemeinsamen Lernens, vermehrte Einbindung von Eltern und Schülern durch Teilhabe an schulpolitischen Entscheidungen.  

"Gelingende Lebensführung"
Ziel der Förderung junger Menschen ausländischer Herkunft nach den "Leipziger Thesen" ist eine "gelingende Lebensführung". Dazu These eins: "Gelingende Lebensführung und soziale Integration bauen ebenso auf Bildungsprozesse in Familien, Kindertageseinrichtungen, Jugendarbeit und der beruflichen Bildung auf." Gelingen soll das Leben der Jugendlichen vom BQN-Treff  alias "Arbeitskreis für Fachkräfte mit Migrationshintergrund" in Köln auch.

Dies ist ein Projekt, das das berufliche Bildung mit Schulen im Alltag vernetzt. Die Gruppe aus 25 jungen Leuten aus Griechenland, Italien, Türkei und anderen Ländern geht in ihrer Freizeit auf andere Migrantinnen und Migranten zu. Sie alle haben ihre Berufsausbildung abgeschlossen und gehen als Vorbilder für andere Migrantinnen und Migranten an die Schulen und Jugendeinrichtungen. So hat im Sommer ein Lackierermeister türkischer Herkunft in einer Kölner Jugendwerkstatt berichtet, was es mit dem Beruf auf sich hat und welche Alternativen zur Laufbahn des Handwerkers bestünden.

Gefragt nach seinem Verständnis von Bildung bestimmt Wolfgang Fehl, Projektleiter von Berufliche Qualifizierung von Nachwuchskräften mit Migrationshintergund (BQN II) einen weiten Bildungsbegriff folgendermaßen: "Wir brauchen ein Gespräch, so dass alle Gruppen sich überhaupt wahrnehmen, gemeinsam über Bildung sprechen und anschließend gemeinsam definieren, was Bildung ist." Der Weg zu einem neuen Bildungsbegriff könne nur über "stärkere Kommunikation" verlaufen. 

Rosarote Brille oder Bildungsreform mit Augenmaß
Gleichgültig ob auf der Grundlage eines engen oder weiten Bildungsbegriffes, Günter Lambertz, Deutsche Industrie- und Handelskammer, möchte in Zukunft die Vorteile von Migranten "besser nutzen". Er setzt auf sprachliche Bildung ohne die Grundfesten des Bildungssystems aus den Angeln heben zu wollen: "Wir haben beschlossen, keine Schulformdiskussion in den Vordergrund zu stellen."  Es sei positiv, wenn Migranten etwa türkische Kundschaft anlockten. Daher müssten Sprachkompetenzen eine größere Rolle spielen. 

Sozialromantik ist es in den Augen von Ingrid Müller, Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München, allen gerecht werden zu wollen, etwa die Forderung, die Lehrkräfte sollten die Sprachen ihrer jeweiligen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erlernen. Sollen die Lehrkräfte, wenn es in einer Klasse Kinder mit acht verschiedenen Muttersprachen gibt, alle diese erlernen, um mit den Eltern kommunizieren zu können? Das Deutsche als Kommunikationssprache sei da wohl sinnvoller.

Ihrer Meinung nach sind Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass die Kinder mit Migrationshintergrund häufig aus Familien mit niedrigem sozialen Status kommen. Ihre Eltern sind etwa doppelt so häufig wie deutsche Eltern in Arbeiterberufen anzutreffen. Damit geht in aller Regel einher, dass sich ihr Sprachniveau auf einem weniger gehobenen Niveau bewegt als das der Kinder aus der Mittelschicht.

Reform in Bayern
Mögliche Maßnahmen wären in der Sekundarstufe I eine Differenzierung des Unterrichts insbesondere in den Eingangsklassen von Hauptschule, Realschule und Gymnasium, eine gezielte Förderung in den Fächern Deutsch, Mathematik und erster Fremdsprache, aber auch in den anderen Fächern, um evtl. vorhandene Mängel in den "Fachsprachen" der jeweiligen Fächer zu beheben. Diese Fördermaßnahmen sollten allen Kindern mit den entsprechenden Schwierigkeiten zugute kommen. Ganztageseinrichtungen wären hierfür sicherlich ein wichtiger Schritt.

Nach Müller stagniert die Bildungsreform keineswegs, wie dies mit Blick auf die hessischen Maßnahmen beklagt worden war. In Bayern komme die Förderung der Kinder mit Migrationshintergrund gut voran, wie dies zahlreiche Initiativen in den bayerischen Schulen belegten: Möglichkeiten, in der Hauptschule den sog. M-Zug (Mittle-Reife-Zug) zu besuchen, die Möglichkeit zum Besuch von muttersprachlichem Ergänzungsunterricht, der von etwa zwei Dritteln der entsprechenden Schülerinnen und Schüler besucht wird, und die Frühförderung im Deutschen. 

Fazit
Ermutigt kehren die Fachleute und Praktiker zu ihren Projekten zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zurück. In der Gewissheit, dass langer Atem für eine lange Strecke erforderlich ist, um die heterogene Jugend von heute systematisch und nachhaltig in die Gesellschaft einzugliedern. Eine Gesellschaft, die noch nicht richtig mit ihrer heterogenen Jugend kann, doch ohne sie sich selbst verliert. 

Fotostrecke

Tagungsprogramm 

Teilnehmerliste

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 18.12.2003
© Innovationsportal

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