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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.09.2003:

Ganztagsschulen im Aufwind

Das größte Schulprogramm Deutschlands fördert bundesweit Ganztagsschulen
Das Bild zum Artikel
Schülerinnen einer Ganztagsschule aus Göttingen
Quelle: Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung"

"Nachsitzen" bei der Startkonferenz zum Ganztagsschulprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung": Rund 300 Erwachsene und Jugendliche treffen sich am 8. und 9. September 2003 in Berlin, um das "größte bundesdeutsche Schulprogramm" auf den Weg zu bringen, das es je in Deutschland gegeben hat.

Der Konferenzsaal erinnert an eine Aula: Holzvertäfelung und rote Stühle für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ein festlicher Rahmen für eine Nation, die ihr Klassenziel verfehlt hat: Mit den besten Bildungsnationen in der ersten Liga mitzuspielen. Das Publikum repräsentiert ein breites Spektrum der Gesellschaft: Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Schulen.

Auf dem Podium im Konferenzsaal steht ein Blumenstrauß mit roten Gerbera und Gladiolen. Vier Minister eröffnen das nationale Klassentreffen. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, Renate Schmidt, Bundesministerin für Senioren, Familie, Frauen und Jugend, Doris Ahnen, Kultusministerin von Rheinland-Pfalz und Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Jan-Hendrick Olbertz.

Viel zu feiern gibt es nicht, schließlich sitzen und beraten sich die Vertreter über Ganztagsschulen, weil das deutsche Bildungswesen am Boden liegt - Platz 20 im internationalen Schulvergleich.

Ungerechte Schule
Und so sagt Edelgard Bulmahn, Bundesbildungsministerin, auf der Startkonferenz: "Die Versetzung ist gefährdet", Deutschlands Schule "leiden an einer großen Schwäche". Eine der Hauptschwächen: Die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungswesens, bei dem die Bildungschancen eng mit der sozialen Herkunft gekoppelt sind.

Daher brauche das deutsche Bildungswesen einen grundlegenden Perspektivwechsel: "Wir müssen weg von verordnetem Lernen im Gleichschritt". Vor allem Ganztagsschulen ermöglichten es, eine "Pädagogik der Vielfalt" zu leben, die schwache Schülerinnen und Schüler fördert und starke fordert. Ganztagsschulen müssten flächendeckend eingeführt werden. Doch nicht alle wollen eine möglichst hohe Zahl von Ganztagsschulen.

Klasse statt Masse lautet die Devise von Jan-Hendrick Olbertz. Gegenwärtig existieren in Sachsen-Anhalt lediglich 42 Ganztagsschulen, überwiegend im Sekundarschulbereich. Dabei kommt es ihm in erster Linie auf die Güte des Konzeptes an. Der Lehrplan solle entschlackt, Maßstäbe vereinheitlicht, Wege vervielfältigt werden. "Ich möchte nicht, dass eine Schule, die 200 Türklinken braucht, deswegen Ganztagsschule wird", sagt er. Doch auch "Schule total", eine Schule als "allzuständige Organisation" sei mit ihm nicht zu machen. So bremst Olbertz eine Euphorie, die sich darauf gründet, dass Ganztagsschule alle Probleme lösen soll. 

Allerdings: Ganztagsschulen sind kein Allheilmittel. Darin sind sich alle auf dem Podium einig. Sie sind vielmehr eine begründete Hoffnung auf Besserung, wenn es sich denn um "echte Ganztagsschulen" handelt, die eine Pädagogik der Vielfalt unter Einbeziehung aller Akteure entfaltet.

"Choreographie von Schule"
"Die Ganztagsschule gibt ganz viele Angebote, die vielfältige Fähigkeiten fördern", sagt Wilhelm Heuchel, Lehrer an der Integrierten Gesamtschule Göttingen und Mentor des Schulzirkus. Für ihn ist eine gute Schule eine, die "feste und stabile Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern aufbaut". "Ich möchte an keiner anderen Schule arbeiten", sagt er.

Im Foyer führen Schülerinnen der Integrierten Gesamtschule Göttingen unterdessen akrobatische Kunststücke vor. Nele Hacke, 16 Jahre, und Katharina Loose, 15 Jahre, bilden zusammen eine Figur, die stabil und doch voller Spannung ist: Eine Schülerin, die auf dem Rücken liegt, stemmt die andere, die sich an ihren Füßen festhält, in die Höhe.

Balance-Akte sind überhaupt kennzeichnend für Ganztagschulen. In Ganztagsschulen arbeiten viele verschiedene Professionen zusammen, die unterschiedliche Zugänge zu den Schülerinnen und Schülern haben. Als "Choreographie von Schule" bezeichnet Reinhard Kahl die Kooperation von Schule und Partner aus der Lebenswelt: Eltern, Künstler, Sportler, Handwerker sind die "Botschafter einer anderen Welt". Der von ihm auf der Tagung vorgestellte Film "Treibhäuser der Zukunft" gibt Einblicke in die gelebte Welt von Ganztagsschule.

Heterogene Schulen, nicht homogene

"Wir müssen endlich Ernst machen mit der Balance in verschiedenen Bereichen der Ganztagsschule" sagt Alfred Hinz, Rektor der Bodenseeschule St. Martin, "bei Ganztagsschule wird der Schüler in seiner Würde ernst genommen". Die Bodenseeschule ist eine der im Film vorgestellten Schulen - ein gutes Beispiel, das zeigt, dass Ganztagsschule Kinder und Jugendliche nicht zum Gleichschritt zwingt, sondern ihre Vielfalt und Eigenständigkeit anerkennt, eben keine "Schule total".

"Keine Schlachten von gestern schlagen", möchte Doris Ahnen. An vielen der 81 Schulen, die im vergangenen Schuljahr in Rheinland-Pfalz Ganztagsschule "in neuer Form" geworden sind, sieht sie "Begeisterung für neue Wege". Zu diesem Zweck sollen Schulen selbstständiger werden, darin sind sich viele Politiker einig. Bei allen unterschiedlichen Ansätzen in der Ausgestaltung des Bildungswesens, die in den Ländern in Umlauf sind, drängt sich der Eindruck auf: Die Zeit ist reif für eine grundlegende Bildungsreform, auch über viele Parteigrenzen hinweg.

Perfekte Ganztagsschule nur ein Traum?
Eine starke Fraktion auf der Startkonferenz sind die Schülervertreter von Länder- und Bundesebene. Mit über 20 Schülerinnen und Schülern sind sie nicht zu übersehen. Darüber hinaus sind sie gut organisiert, so dass sie in fast allen der acht Arbeitsgruppen präsent sind, mit abgestimmten Forderungen. Da sie wissen, dass mit dem Ganztagsschulprogramm ein neuer Meilenstein in der deutschen Schulgeschichte geschrieben wird, legen sie ihr volles Gewicht in die Waagschale.

Andreas Schippling, 17 Jahre, ist Landesschülervertreter von Rheinland-Pfalz. Er geht auf eine Halbtagsschule, dem Stefan George-Gymnasium in Bingen. Schule stellt er sich so vor wie sie im Film "Treibhäuser der Zukunft" dargestellt wird. Sie wollen in den Arbeitsgruppen der Startkonferenz mitreden und Denkanstöße geben, so dass sie dem "Traum der perfekten Ganztagsschule näher kommen".

Eine gute Ganztagsschule ist für Schippling eine Schule, in der "Unterricht aufgelockert ist". Es müsse einen Wechsel zwischen Unterricht und Freizeit geben - über den ganzen Tag verteilt. Rhythmisierten Unterricht, wo nicht am Vormittag Unterricht stattfindet und erst am Nachmittag Freizeit und Spiel.

Ganztagsschulen sollten autonome Schulen sein, die sich ihre Lehrkräfte selbst auswählen. Bei der Auswahl der Pädagogen sollten die Schülerinnen und Schüler, so Schippling, im gleichen Maße wie Lehrer und Eltern am Entscheidungsprozess beteiligt sein: Drittelparität. Die Kinder und Jugendlichen sollten mitbestimmen können, "wer als Lehrer eingestellt wird, wie viel Geld für was ausgegeben wird und wie der Unterricht konzipiert wird".

Wenn Schüler Lehrer von Lehrern sein wollen
Vincent Steinl, von der Bayerischen Landesschülervertretung trägt ein T-Shirt mit dem provozierenden Slogan: "Ich finde es geil, bevormundet zu werden". Er begrüßt es, dass es die Arbeitsgruppe "acht" im "Raum Köpenick" gibt: "Welche Chancen bietet Ganztagsschule für die Beteiligung von Schülern und Eltern".

Zu Beginn verteilt er "rote Karten" an die Teilnehmer, die sie dann zeigen sollten, wenn er zu lange redet. Er moderiert nach Regeln der modernen Kommunikation und zeigt damit, wie er sich den Unterricht in Ganztagsschulen von morgen vorstellt: "Jeder Schüler soll selbst darüber entscheiden, was er lernt." Und wie er lernt.

Unterrichtsziele möchte er mit festlegen dürfen, Klassenprobleme selbstständig lösen können, Projekte und Aktivitäten mitgestalten. Und mitbestimmen, ob eine Schule überhaupt Ganztagsschule werden soll und welche Schwerpunkte sie dabei ausbildet. Jede Schülerin und jeder Schüler soll sich "seine Lehrkraft selbst aussuchen" dürfen.

Ein Teilnehmer aus Thüringen stutzt Steinl zurecht: Er verkenne die Wirklichkeit im Arbeitsleben, dort könne sich niemand seine Vorgesetzten aussuchen. Überraschend springt ihm Wolfgang Krüger von Siemens Education zur Seite: Jawohl in modernen Firmen würden selbstbewusste junge Menschen gesucht, die sich sowohl ihre Chefs als auch ihre Mitarbeiter aussuchen könnten.

Auf der Startkonferenz in Berlin haben die Schülervertreter den Mut gefunden, grundlegende Forderungen aufzustellen. Und warum auch nicht? Schließlich soll die Schullandschaft in Deutschland grundlegend verändert werden.

Ganztagsschule - neue Schule
Das "Reformfenster" ist geöffnet, darin sind sich viele einig. Mit dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" sind die Weichen gestellt: mit vier Milliarden Euro bis zum Jahr 2007 die Ganztagsschulen in den Ländern auszubauen. Ganztagsschul-Forscher Heinz Günther Holtappels, Institut für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund, ermutigt zum Handeln und warnt die Länder zugleich davor, sich kopflos und ohne Konzept ins Abenteuer der Schulentwicklung zu stürzen.

Die wichtigsten Voraussetzungen dafür, eine Ganztagsschule mit Erfolg aufzubauen, die so genannten "strukturellen Gelingensbedingungen" sind:

Eine bejahende Schulleitung sowie Steuerung durch eine tragende Lehrergruppe, Bejahung in der Elternschaft, Bejahung im Kollegium und seine aktive Beteiligung. Unerlässlich sind aber auch Teambildung und Kooperation, eine neue Lehr- und Lernkultur, Innovationsbereitschaft und Unterstützung des Schulträgers. Am Ende haben die Arbeitsgruppen der Startkonferenz einen Befund von Edelgard Bulmahn bestätigt: "Ein grundlegendes Umdenken im gesamten System" ist erforderlich.

Nach Eva-Maria Stange, Vorsitzende der GEW, lässt sich eine Benachteiligung sozial schwächerer Schülerinnen und Schüler nur durch eine "andere Schule" verhindern, eine "echte Ganztagsschule", in der mehr Zeit für Schule nicht gleichbedeutend mit mehr Frontalunterricht ist. Bei der Startkonferenz seien die Experten inhaltlich "viel näher beieinander" als sie vermutet habe.

Ganztagsschule in fünf Jahren
"Eine völlige Selbstständigkeit, wo wir tatsächlich vor Ort entscheiden können, was an unserer Schule passiert," wünscht sich Dirk Lahmann von der Schulpflegschaft der Integrierten Gesamtschule in Bonn-Beuel in fünf Jahren. Die Lehrpläne sollten nur noch eine Rahmenvorgabe sein, so dass die Schule die Schülerinnen und Schüler da abholen kann, wo sie stehen. Die Ganztagsschule müsse gemeinsam mit Eltern, Lehrern und Schülern gestaltet werden.

Wichtig sei es, die Motivation zu erhalten, weil mit der Begeisterung ein ganz anderes Lernen möglich sei. Dies würden die Schülerinnen und Schüler täglich erleben und in der Folge auch deren Eltern. Das neue Modell von Schule müsse in möglichst vielen Schulen gestartet werden.

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Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.09.2003
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