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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 26.06.2003:

"...weder Einheitsschule noch Ganztagsschule für alle"

Hartfelder: Finnische Verhältnisse können nicht einfach auf das deutsche Bildungssystem übertragen werden
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Carola Hartfelder

Bildung PLUS: Wie sieht Ihr Konzept für Bildungsreform in Brandenburg in Hinblick auf PISA aus?

Hartfelder: Der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Elternhaus und Schule muss auf die einzigartige Persönlichkeit jedes Kindes ausgerichtet werden. Für uns muss die Differenzierung des Schulsystems erhalten bleiben, denn das ist das in Deutschland machbare Modell, das allerdings verbesserungswürdig ist.

Bildung PLUS: Inwiefern muss das Bildungssystem verbessert werden?

Hartfelder:
Vorschulerziehung und Grundschulbildung müssen in den Mittelpunkt gerückt werden. In den ersten zehn Jahren werden Anlagen so stark geprägt wie nie mehr danach. In dieser Zeit müssen die Kinder gefordert und gefördert werden.

Bildung PLUS: Wie stehen Sie zum Bildungsauftrag der Kindertagesstätten?

Hartfelder: Wir sehen das sehr positiv. Die Kita hat im Osten schon lange einen sehr hohen Stellenwert. Wir sind nicht dafür, dass Kinder bereits mit zehn Wochen in die Kita kommen sollen und der Staat die Lufthoheit über die Kinderbetten übernimmt bis zum Ende der Schulzeit.

Allerdings ist der Bildungsauftrag der Kitas in Brandenburg in Vergessenheit geraten. Voraussetzung für den Eintritt in die Schule aber ist, dass alle Kinder mit möglichst hohem Niveau in die Schule kommen. In keinem Alter lernt das Kind so viel wie in den Jahren von zwei bis zehn, angefangen von der Anzahl der Worte bis hin zu mathematischen Kenntnissen.

Bildung PLUS: Inwieweit gibt es Unterschiede zwischen den Positionen der CDU und denen der Regierung in Brandenburg?

Hartfelder:
Wir unterscheiden uns von den Sozialdemokraten insofern, als wir weder eine Einheitsschule noch die Ganztagsschule für alle wollen. Viele schauen neidvoll auf Finnland. Aber das finnische System ist insgesamt nicht auf Deutschland übertragbar.
Das fängt mit dem finnischen Besoldungssystem an und geht weiter mit dem Auswahlsystem für Lehramtsstudenten. In Finnland kann nicht jeder Lehrer werden, der es will. Die Aufnahmeprüfungen an finnischen Universitäten lesen sehr scharf aus. Lehrer in Finnland verdienen etwa die Hälfte des Gehaltes von deutschen Lehrern.

Das Gerede um Einheitsschule und Ganztagsschule geht an der Realität vorbei. Die deutsche Realität ist aber anders als die finnische. Die Ganztagsschule in Finnland ersetzt die Arbeit im außerschulischen Bereich. Dort ist der Ort für Arbeitsgemeinschaften und Sport die Schule, nicht der Verein. In Deutschland hingegen machen viele Vereine, Musikschulen, Chorverbände, die Feuerwehr eigene Angebote für Kinder und Jugendliche.

Bei uns ist das Abitur mit Note und Notendurchschnitt das Non-Plus-Ultra, um den Numerus clausus zu umgehen oder einen Studienplatz zu erhalten, während man in Finnland an jeder Universität eine Aufnahmeprüfung machen muss, genauso wie an jeder Berufschule. Deshalb brauchen Finnen keine Noten. Sie wissen: "Wenn ich nicht frühzeitig gelernt habe, schaffe ich die Aufnahmeprüfung in der weiterführenden Bildungseinrichtung nicht". Deshalb müssen wir uns über Verbesserungen in unseren Systemen Gedanken machen.

Bildung PLUS: In Rheinland-Pfalz gibt es eine neue Form von Ganztagsschulen: Die Teilnahme am Nachmittags-Angebot ist grundsätzlich freiwillig. Doch bei einer Anmeldung muss man sich für die Dauer eines Jahres für den Ganztagsschulbesuch verpflichten. Wie beurteilen Sie solche Bemühungen?

Hartfelder: Das Ganztagsschul-Angebot muss sich am Bedarf orientieren und freiwillig sein. Wir sollten nur dann Ganztags-Angebote einrichten, wenn Eltern und Vereine nicht in der Lage sind, das Kind nachmittags abzuholen. Zur Zeit gibt es in Brandenburg 86 Schulen mit Ganztagsschulbetrieb. Für den Grundschulbereich haben wir flächendeckend den Hort zur Nachmittagsbetreuung.

Bildung PLUS: Kann das Prinzip "Freiwilligkeit" vor dem Hintergrund überhaupt beibehalten werden, dass es aufgrund der Vergleichstudien große Defizite bei  Schülerinnen und Schülern gibt?

Hartfelder: Ganztagsschulen sind teuer. Lehrer werden zusätzlich benötigt, das Mittagessen muss organisiert werden und die Hausaufgabenbetreuung ist zu gewährleisten. Wenn der Staat diesen Mehraufwand betreibt, muss man von Eltern und Kind erwarten können, dass ihr Kind nach der Anmeldung verpflichtend in die Schule geht.

Eigentlich wollen viele Kinder nicht bis 16 Uhr in der Schule bleiben, sie wollen nicht die volle Ganztagsschule. Hier müsste man mehr unterschiedliche Angebote machen: Ganztagsbetrieb an drei Tagen die Woche, von Dienstag bis Donnerstag - d. h. die offene Ganztagsschule. Ganztagsschule kann mit Vereinsangeboten kombiniert werden. Dafür gibt es Modelle in Brandenburg, die auch in Ordnung sind, vorausgesetzt, sie werden von den Schülern gewünscht.

Bildung PLUS: In den letzten Jahren hat es eine Renaissance der Tugenden gegeben. Welchen Stellenwert haben Tugenden für Kinder und Jugendliche in der Schule?

Hartfelder: Ich freue mich darüber, dass in den letzten Jahren wieder mehr über Tugenden und Werte gesprochen wird und zwar nicht nur von Intellektuellen. Werte und Normen werden wieder mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt.

Ganz oben an stehen: Vertrauen, Verlässlichkeit und die Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu können.

Außerdem gibt es Sekundär-Tugenden, ohne die die oben genannten Tugenden gar nicht möglich wären: Ordnung, Fleiß, Höflichkeit und der Wille etwas zu tun. Diese Tugenden sollten bereits kleine Kinder trainieren. Dazu gehören sehr viel Liebe und Vertrauen zwischen Kindern und Eltern oder Kindern und Lehrern. Dazu gehören auch das Setzen von Grenzen und die Kontrolle der Einhaltung dieser Grenzen, bei Zuwiderhandlung muss sanktioniert werden. Dann wären wir ein ganzes Stück weiter.

Die Basis von allem ist Vertrauen und die Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu können. Manche bezeichnen dies als "Solidarität".
 
Bildung PLUS: Die Regierung in Brandenburg führt derzeit einen Schulversuch an zwölf Schulen - sechs berufsbildende und sechs allgemeinbildende - durch mit dem Ziel, den Schulen mehr Verantwortung zu geben. Ist der Versuch erfolgreich?

Hartfelder: Vom Grundsatz her finde ich den Schulversuch in Ordnung. Es ist richtig, mehr Verantwortung in die Schulen zu geben. Man kann Selbstständigkeit von Schule im Bereich der Finanzen, des Inhalts und des Personals anstreben. Allerdings stehen das Besoldungssystem und die Tarifpartner der Personalhoheit der Schule entgegen. Es gibt also derzeit rechtliche Grenzen der Selbstständigkeit von Schule in Deutschland.

In Finnland werden die Lehrer durch die Gemeinde und den Schulleiter eingestellt. Genauso werden sie entlassen. Sie sind nicht verbeamtet: Sie haben nicht die Chance zu sagen: "Einmal Lehrer immer Lehrer". Doch ein solches System gibt es in Deutschland nicht. Deshalb ist "Schulautonomie" bei uns schwieriger zu erzielen.

Beim Schulversuch von Brandenburg muss man den Unterschied zwischen allgemeinbildender und berufsbildender Schule beachten. Man macht es der berufsbildenden Schule schwer, denn es gibt Schulbezirke für Fachklassen und damit ist die Profilbildung schwer. Der Wettbewerb wird von vornherein eingeschränkt.

Bildung PLUS: Sie bejahen also den Wettbewerb zwischen Schulen?

Hartfelder:
Generell sowieso. Wenn man verschiedene Schulen will, muss man auch für den Wettbewerb zwischen den Schulen sein.

Bildung PLUS:
Finden Sie es richtig, wenn einzelne Schulen dann geschlossen werden?

Hartfelder: Im berufsbildenden Bereich ist das auf jeden Fall in Ordnung und es ist auch sonst in Ordnung. Wettbewerb unter Schulen muss dazu führen, dass die Besten bleiben. Allerdings gilt das im Grundschulbereich nicht, denn da gibt es die Schulbezirke - generell ist Wettbewerb in Brandenburg nur bei den weiterführenden Schulen möglich. Wettbewerb wird aber auch durch die zurückgehenden Schülerzahlen im ländlichen Raum erschwert. Oft wählen Eltern die ortsnahe Schule und noch nicht die qualitativ bessere. Wettbewerb wird auch durch den Schülertransport "gesteuert".

Eines der größten Probleme in Brandenburg ist der Rückgang der Schülerzahlen. Zur Zeit haben wir nur noch weniger als 40 Prozent der Schüler, die wir noch vor fünf bis sechs Jahren in einer Klassenstufe hatten. 1990 wurden in Brandenburg noch 34.000 Kinder geboren, 1992 nur noch 12.000.Darin liegt Brisanz. 1992 kam es verstärkt zur Abwanderung aus dem Osten auf Grund von Lehrstellenmangel, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Perspektivlosigkeit.

Ich selbst sehe noch ein anderes Problem, das ich in der Familie erlebt habe: In meiner Generation bekam man das erste Kind mit 20 Jahren, meine Tochter etwa war 25 als das erstes Enkelkind geboren wurde. Wir haben uns an das westdeutsche Niveau angeglichen - die jungen Leute bekommen ihre Kinder nun mit 25 bis 30 Jahren.

Ein wenig Egoismus sehe ich auch. Nach dem Motto , ein Kind reicht, gab es nach 1990 viel mehr Familien mit nur einem Kind. Optimistisch stimmt mich allerdings die letzte Shell-Studie. Fast 60 Prozent der jungen Leute wollen demnach wieder mehr als ein Kind bekommen.

In der DDR dagegen war es so, dass Kind und Familie Voraussetzung dafür waren, sich eine Existenz aufzubauen und beispielsweise eine eigene Wohnung zu bekommen. Auf diese Weise konnten sich die jungen Leute von den Eltern lösen.

Bildung PLUS: Angesichts der Zahlen, die Sie genannt haben: Sind wir eine Einwanderungsgesellschaft? Wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf die Bildung?

Hartfelder: Zunächst einmal hoffe ich, dass sich mehr jungen Leute für Kinder entscheiden.

Die Antwort auf die Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht, überlasse ich anderen. Wie wir mit den steigenden Ausländeranteilen umgehen sollten, das können wir von anderen Ländern abgucken. Allerdings haben wir in Brandenburg das Problem im Augenblick nicht, da hier der Ausländer-Anteil mit 1,5 Prozent ziemlich niedrig ist. Erstaunlich jedoch ist, dass wir hier dennoch einen relativ auffälligen Rechtsradikalismus haben.

Wenn man sich die DDR-Geschichte anschaut, ist es nicht ganz unverständlich: Ausländer wurden ghettoisiert, man kam kaum mit ihnen in Kontakt, natürliche Ängste konnten nicht abgebaut werden, positive Erfahrungen wurden nicht gemacht, die größte Ausländergruppe, die russischen Streitkräfte, liebte man nicht. Ausländerfeindlichkeit jedoch ist nicht akzeptabel.

Die Integration von Ausländern ist eine zweiseitige Angelegenheit. Einer, der integriert und einer, der bereit ist, sich zu integrieren. Integration darf nicht nur auf die deutsche Gesellschaft abgewälzt werden. Eine Voraussetzung für die Integration ist der Wille von Ausländern, sich anzupassen. Das heißt, dass Kinder, die zu uns kommen, die deutsche Sprache erlernen. Erst wenn sie die deutsche Sprache beherrschen, sollten sie in die Schule kommen. Die Finnen machen uns das kompromisslos vor.

Bildung PLUS: Was müsste in der Brandenburgischen Bildungspolitik am dringendsten getan werden?

Hartfelder: Wir haben schon viel getan und PISA in vielen Dingen vorweggenommen. Wir haben zentrale Prüfungen eingeführt, nach der zehnten Klasse und zum Abitur werden wir sie in zwei Jahren erstmals haben. Viele Schüler, die die zentrale Mathematik-Prüfung in der zehnten Klasse in diesem Jahr nicht geschafft haben, sollen jetzt eine Prüfung absolvieren können, die von den Lehrern selbst erstellt wurde. Das halte ich für falsch.

Wir müssen das, was wir mit der Schulgesetz-Novelle 2000 begonnen haben, weiterführen, um Erfolg zu haben. Dazu gehörten mehr Verbindlichkeit der Lerninhalte, Vergleichbarkeit der Leistungen und eine Verbesserung der Qualität des Unterrichts. Die Anhebung des Leistungsniveaus muss damit verbunden sein.

Wir halten es außerdem für notwendig, die Mittel aus der Sekundarstufe II auf die Grundschule umzuverteilen. Denn wir wollen, wie ich bereits sagte, die Grundschule inhaltlich und materiell verbessern. Die Haushaltslage des Landes erlaubt  derzeit nur ein Umschichten der vorhandenen Mittel.

Als Drittes ist die eigentliche Reform der gymnasialen Oberstufe nötig. Wir müssen von der Wahlvielfalt der Fächer wegkommen hin zu Klassenstrukturen. Innerhalb der Klassenstruktur sollen Schüler ein sprachliches Profil, ein ästhetisches oder ein mathematisch-naturwissenschaftliches wählen können. Das fördert das Sozialverhalten in festen Strukturen und ist preiswerter als das Bindungen auflösende Kurssystem.

Schließlich wollen wir generell ein zwölfjähriges Abitur durchsetzen.

Bildung PLUS:
Können sie Ihre Position in einem Motto zusammenfassen?
 
Hartfelder: Die Bildungsreform darf nicht stecken bleiben aufgrund des Geldmangels, an dem das Land leidet.


Carola Hartfelder, 52, Abgeordnete des Landtages Brandenburg und bildungspolitische Sprecherin der Brandenburger CDU. Die Politikerin war 20 Jahre Lehrerin für Sport und Geschichte an den Polytechnischen Oberschulen in Berlin, Sadenbeck und Drahnsdorf sowie dem Gymnasium Luckau.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 26.06.2003
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