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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 27.03.2003:

"... und haben nichts mit einem Warenhaus-Katalog zu tun"

Kerncurriculum soll auf freiwilliger Basis Schule machen
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Prof. Wolfgang Böttcher

Bildung PLUS: Was haben Bildungsstandards und ein Kerncurriculum gemeinsam?

Böttcher: Wir erleben ja aktuell die Debatte um Bildungsstandards. Standards werden als Output verstanden und Kerncurricula als Input-Instrumente. Beide definieren allerdings, was Kinder in der Schule lernen sollen. Mir fällt diese begriffliche Trennung von Bildungsstandards und Kerncurriculum schwer. Standards sind Leitlinien, die mehr oder weniger hart formuliert sind und Wissen und Kompetenzen ausdrücken. Curricula sind die Übersetzung dieser Leitlinien in konkrete, inhaltliche und gegebenenfalls methodische Vorgaben.

Bildung PLUS: Bildungspläne, Rahmenpläne, Unterrichtspläne, Richtlinien, Rahmenrichtlinien: fast so viele Begriffe, wie es Bundesländer gibt. Was unterscheidet ein Kerncurriculum von deutschen Lehrplänen?

Böttcher: Vor einigen Jahren hab ich noch gedacht, dass man die Lehrpläne analysieren und aufgrund dessen ein nationales Kerncurriculum formulieren könnte. Lehrpläne sind aber offensichtlich untaugliche Instrumente, um Schule zu steuern: Sie sind unheimlich vage, auch wenn sie in manchen Fällen Richtlinien heißen. Umgeschriebene Lehrpläne werden die Schule mit Sicherheit nicht reformieren. Bei Kerncuricula müssen die Inhalte zwei Vorgaben erfüllen: Sie müssen klar und knapp sein. Es geht dabei um fachliche Inhalte, die aus der Struktur der Fächer abgeleitet sein müssen und nichts mit einem Warenhaus-Katalog zu tun haben. Und sie müssen dazu beitragen, dass die Kinder die Grundlagen eines wissenschaftlichen Faches verstehen.

Bildung PLUS: Kritiker des Kerncurriculums, das ja auf konkrete Wissensvermittlung setzt, betonen gerne, wie schnell heute Wissen überholt sei. Was entgegnen Sie diesem Einwand?

Böttcher: Grundwissen ist nicht schnell überholt. Die Grundlagen der Physik und der Mathematik sind ja weitgehend unverändert. Die Behauptung, Wissen ändere sich ständig, ist ein Mythos. Nur auf hohem wissenschaftlichen Niveau ändert sich das Wissen, nicht aber auf dem Niveau der Grundlagen.

Bildung PLUS: PISA hat die soziale Chancenungerechtigkeit des deutschen Schulsystems massiv kritisiert. Wie könnte ein Kerncurriculum dieses Problem lösen?

Böttcher: Indem ein Kerncurriculum verbindlich ist. Man muss es deutlich sagen: Ein Kerncurriculum ist nur ein Instrument in einem Konzert von Instrumenten, die nötig sind um Schule zu verändern. Verbindlichkeit ist eines der zentralen Merkmale des Kerncurriculums, das mir vorschwebt. Lehrerinnen und Lehrer und die Schule sind dafür verantwortlich, dass die Vorgaben umgesetzt werden. Im Moment haben Lehrer noch einen sehr naturalistischen Begabungsbegriff: Die meisten Schüler sind eben einfach nur durchschnittlich, dann gibt es noch ein paar sehr gute Schüler, die auch als Beweis für eine gute Schule dienen und dann gibt es noch die zwanzig Prozent, die eben zu blöd sind zum Lernen. Lehrerinnen und Lehrer sind meist zufrieden, wenn sie diese vermeintliche Normalverteilung abbilden. Dagegen votiert die Idee des Kerncurriculums. Das pädagogische Credo lautet: Alle Kinder können lernen. Ein Kerncurriculum würde deshalb die Idee von Schule auf die Füße stellen. Was ist das für eine Pädagogik, die nur denen etwas beibringt, die ohnehin von Haus aus alles Nötige mitbringen?

Bildung PLUS: Ein Kerncurriculum ist verbindlich, das heißt, die Schule ist verpflichtet, die festgelegten Wissensziele allen Schülern zu vermitteln. Glauben Sie, dass die Schulen begeistert auf diesen Leistungsdruck reagieren werden?

Böttcher: Ich glaube kaum, dass diese Idee auf Begeisterung stößt. Natürlich muss man versuchen, Lehrerinnen und Lehrer in das Boot von Reformen zu holen. Man muss auch die positiven Elemente eines Kerncurriculums deutlich machen. Natürlich kontrolliert ein Kerncurriculum die pädagogische Arbeit und Lehrerinnen und Lehrer, die die Vorgaben nicht erreichen. Sie müssen belegen, warum das so ist. Dieser Kontrolleffekt wird von vielen abgelehnt, aber er macht ja auch die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer einfacher. Sie wissen nun konkret, was von ihnen erwartet wird. In den USA gibt es fast zweitausend Schulen, die ein solches wissensorientiertes Kerncurriculum anwenden - auf freiwilliger Basis. Und diese Schulen haben festgestellt, das nutzt uns und unseren Kindern. Empirische Studien in den USA belegen, dass die Kinder, vor allem die PISA-Risikogruppe, mehr lernen und auch die Lehrerkooperation zugenommen hat. Aber völlig klar muss sein, dass Lehrer Unterstützung benötigen, allen die notwendige Grundhaltung zu vermitteln. Ein Kerncurriculum ohne aufwändige und auch kostspielige Förderungsmaßnahmen macht die Schulen nicht besser.

Bildung PLUS: Sie haben mal geschrieben: "Ich will mit niemandem eine Brücke bauen, der teamfähig ist, aber keine Ahnung von Statik hat." Eine sehr plakative Formulierung, doch wie vermittelt ein Kerncurriculum neben dem Fachwissen soziale Kompetenzen?

Böttcher: Das Kerncurriculum definiert ja nur - wie der Name schon sagt - den Kern, das Unverzichtbare des Wissens. Das Kerncurriculum lässt den Schulen jenseits der verbindlichen Vorgaben unheimlich viel Freiheit. Außerdem vermittelt ein guter Fachunterricht nicht nur die Grundlagen, Theorien und Methoden, sondern auch Kompetenzen, wie sich Wissen erschließen lässt. Zum Beispiel durch Teamarbeit, Recherche, Experimente und Präsentationstechniken. Beides gehört zusammen. Ich sehe da überhaupt keinen Widerspruch.

Bildung PLUS: Wer soll ein Kerncurriculum entwickeln und umsetzen?

Böttcher: Aus meiner Sicht macht es Sinn, ein nationales Kerncurriculum zu entwickeln. Es ist ja auch nicht besonders ökonomisch, wenn alle Bundesländer einzelne Curricula entwickeln. Ich könnte mir hypothetisch ein nationales Kerncurriculum-Institut vorstellen, das in Absprache mit allen wichtigen Stakeholders - also den Ländern, Landesinstituten, Lehrern und Wissenschaftlern - die Debatte darüber öffentlich austrägt. Die Öffentlichkeit muss mit einbezogen werden, denn Schule ist ein zu wichtiges Thema, um exklusiv zu bleiben. Mein Ansatz ist, dass ich inhaltliche Vorschläge für ein Kerncurriculum entwickeln werde, um dann dafür bei den Schulen zu werben, ob sie das nicht einmal ausprobieren wollen. Ausprobieren und testen ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Ob das Kerncurriculum funktioniert, ist eine empirische Frage, keine Glaubensangelegenheit. Und wenn positive Effekte entstehen, kann man hoffen, dass das Kerncurriculum auf freiwilliger Basis Schule macht.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 27.03.2003
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