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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 20.03.2003:

"Unsere Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient."

Der Autor und Ex-Lehrer Markus Orths schrieb eine Satire auf den Schulbetrieb
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Autor und Ex-Lehrer Markus Orths

Im Mittelpunkt von Markus Orths Satire "Lehrerzimmer" steht Studienassessor Kranich (Englisch, Deutsch), der bereits an seinem ersten Schultag vom Direktor lernt, auf welche vier Säulen sich das gesamte Schulsystem stützt: Angst, Jammer, Schein und Lüge. Ehe er es sich versieht, ist er mittendrin zwischen Oberschulamtspolizisten, Geheimen Sicherheitsbeamten und der KG, der Konspirativen Gruppe. Wie er hier wieder herauskommt ist spannend und ausgesprochen amüsant erzählt.
(Markus Orths: "Lehrerzimmer", Schöffling, 164 Seiten, 18.50 Euro)

Bildung Plus: In Ihrer Satire "Lehrerzimmer" beschreiben Sie das deutsche Schulsystem als ein autoritäres System, in dem "Angst, Jammer, Schein und Lüge" die Eckpfeiler bilden. Entspricht dies Ihrer persönlichen Erfahrung als Lehrer?

Orths: Nicht "ich", der Autor Markus Orths, beschreibt das System als ein solches, sondern die Worte stammen von der erfundenen Kunstfigur Direktor Höllinger. "Lehrerzimmer" ist eine schwarze, negative Satire und arbeitet, wie alle Satiren, vor allem mit dem Mittel der Übertreibung. Und gleichzeitig mit dem Mittel der Reduktion: Alles wird auf einen einfachen Nenner gebracht. Meine Satire verzichtet gänzlich auf den Aspekt des Positiven. Sie will durch groteske Verzerrung des Negativen den horrenden Zustand des Systems Schule entlarven. Eine Satire, heißt es, zeichnet "kein objektives Bild der Missstände", sondern die "Travestie einer Situation" und kann "den Entwurf eines positiven Gegenbildes ablehnen". Genau Letzteres wollte ich. Es gibt keine positive Figur im Roman. Keinen Helden, der das System bekämpft und Auswege vorzeigt. Es gibt keinen Hoffnungsschimmer. Selbst der Ich-Erzähler Martin Kranich ist Opportunist und Mitläufer. Durch die Figur des Direktor Höllingers und durch das, was er sagt, werden demnach lediglich die subtilen negativen Mechanismen des Systems deutlich und klar offen gelegt. Nicht mehr und nicht weniger.

Bildung Plus: Die PISA-Studie hat der deutschen Schule keine guten Noten erteilt. Auch in Ihrem Roman ist von einer "Großen Studie" die Rede. Könnten Reformvorschläge, wie die verstärkte Einführung von Ganztagschulen und selbstständigen Schulen, wie die individuelle und frühe Förderung der Schüler die Institution in Ihrem Roman retten?

Orths: Die Schule in meinem Roman ist aus den oben angegebenen Gründen überhaupt nicht zu retten, weil sie, wie gesagt, ein reines Negativum ist.

Bildung Plus: Können diese Initiativen dem real existierenden deutschen Schulsystem aus der Krise helfen?

Orths: Unsere Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient. Wenn die Gesellschaftsprämissen so bleiben, wie sie sind, können Änderungen in der Schule nie grundsätzlich greifen, sondern lediglich kosmetischer Natur sein. Denn wir können nicht einfach die Schulsituation ändern, ohne gleichzeitig oder zumindest zeitnah die Gesellschaftsstrukturen grundlegend zu ändern. Dafür ist aber eine 180-Grad-Wende im Bewusstsein nötig.
Die Schülerinnen und Schüler werden getrimmt, in der Welt eines vollkommen überstrapazierten Kapitalismus zu überleben. Das völlig überbetonte Leistungsdenken, wie es heute herrscht, kann aber meines Erachtens nur in die totale Katastrophe führen. Natürlich sind Leistung, Bewertung und Anerkennung für den Menschen wichtig, aber diese permanente Überbetonung, die totale Fokussierung darauf, das kritisiere ich. Das muss raus aus der Schule. Und das geht natürlich nur, wenn auch in unserer Gesellschaft endlich kapiert wird, dass es nicht mehr schneller, höher, weiter, besser, mehr sein kann, dass wir den Bogen längst überspannt haben.

Bildung Plus: Was würden Sie als erstes ändern, wenn man Sie ließe

Orths: Einen angstfreien Lernraum schaffen, vor allem für die Unterstufe. In anderen Ländern beginnt eine Benotung der Schüler auch erst viel später. Wir dagegen züchten ab der Klasse 5 schon konkurrenzbesessene, krankhaft ehrgeizige Leistungsmonster, wenn wir keinen anderen Lernsinn vermitteln als den, immer nur der Beste zu sein.

Bildung Plus: Die Lehrer im "Lehrerzimmer" sind desillusioniert, leer und angepasst. Sind Lehrerinnen und Lehrer wirklich so schlecht wie ihr Ruf?

Orths: In meinem Buch werden nicht irgendwelche Lehrer-Hempel-Charaktere lächerlich gemacht. Es wird gezeigt, wie Lehrer (auch die so genannten idealistischen Lehrer!) aufgrund der unhaltbaren Zustände zu dem geworden sind, was sie teilweise sind.
Andererseits kann es aber auch nicht sein, dass die Lehrer sich nur als "Opfer" des "bösen" Systems sehen. Viele von ihnen tragen das System ja gerade mit.
Doch eins ist sicher: Vor jedem Lehrer, der angesichts der realen Zustände heute einen guten Job macht - und davon gibt es mehr als man denkt - ziehe ich sämtliche Hüte. Ich weiß, was es bedeutet, sechs Stunden vor der Klasse zu stehen.

Bildung Plus: Gelten Sie unter den Kolleginnen und Kollegen nun als "Nestbeschmutzer"?

Orths: Ganz im Gegenteil. Gerade viele ehemalige Kollegen haben sich sehr über das Buch gefreut. Ein Lehrer z.B. sagte mir, dass er das Buch jeden Tag ins Lehrerzimmer mitnimmt, damit er immer an die Absurdität des realen Geschehens erinnert wird, die man im Stress des Alltags oft vergisst. Ein anderer sagte, dass er immer sehr gerne Lehrer war, aber trotzdem beim Lesen des Buches ein Ziehen im Magen verspürte. Ein Dritter sagte, dass ihm die Szenen trotz ihrer Verzerrung ins Groteske beängstigend wirklichkeitsnah vorkamen, sodass ihm das Lachen im Halse stecken blieb.

Bildung Plus: Die KMK plant eine Imagekampagne, um Lehrer ins rechte Licht zu rücken. Kann das helfen?

Orths: Direktor Höllinger würde bei solch einem oberflächlichen Kultusministeriumskäse mit Recht auf die dritte Säule der Schule verweisen, den Schein.

Bildung Plus: Schüler kommen in Ihrem Roman so gut wie gar nicht vor. Spielen sie in der Schule keine Rolle? Ist von ihnen nicht mehr zu erwarten?

Orths: Das Buch heißt ja "Lehrerzimmer", nicht "Klassenzimmer". Es gibt einen Einblick in die Strukturen des Systems, dessen wichtigster Kern eben die Lehrerzimmer sind, da dort umgesetzt wird, was in den Ministerien beschlossen wird.
Und - ach ja: Die Schulen gibt es ja, weil es Schüler gibt! Diese Banalität muss man heute tatsächlich wieder aussprechen, wenn man sieht, wie viel Kraft und Energie in einen leerlaufenden Verwaltungsapparat gesteckt wird, wie viel Knüppel den Lehrern ständig zwischen die Beine geworfen werden, wie viel vollkommen überflüssigen bürokratischen Firlefanz man über sich ergehen lassen muss. Wenn man all diese Kräfte und Energien auf den Unterricht bündeln würde, wäre man schon ein ganzes Stück weiter.

Bildung Plus: "Lösungserwartung" lautet das zentrale Stichwort methodischen Vorgehens im Unterricht, das Direktor Höllinger im "Lehrerzimmer" seinen Kollegen diktiert. Welche Lösungserwartung richten Sie an die deutsche Bildungspolitik?

Orths: Ich bin da eher resignativ. Um es mal so zu sagen: Der Eisberg ist schon gerammt, man versucht jetzt noch, durch hektischen Aktionismus zu retten, was zu retten ist. Dabei kommt dann so ein kompletter Unsinn heraus wie das Buch "Nach dem Pisa-Schock", das, mit heißer Nadel gestrickt, alle konkreten Vorschläge wie der Teufel das Weihwasser meidet oder aber genau das verstärkt, was eigentlich bemängelt wurde. Ein Beispiel: Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, schreibt: "Die bisherigen Instrumente zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung müssen optimiert und erweitert werden. Curriculare Vorgaben und andere Formen der Input-Steuerung reichen als Qualitätssiegel heute nicht mehr aus. Sie müssen dringend durch interne und externe Ergebniskontrollen, durch einzelschulische Rechenschaftsberichte und maßgeschneiderte Instrumente des quality managments ergänzt werden." Also am besten sollte man jedes Klassenzimmer rund um die Uhr per Video überwachen lassen! Dieses ganze Pisa-Buch wimmelt von solch einem unsäglichen Mist, quer durch alle Parteien. Nur schade, dass ich es erst gelesen habe, nachdem der Roman schon fertig war, sonst hätte ich noch jede Menge Stoff gehabt.

Bildung Plus: Sie selbst sind beurlaubter Lehrer. Können Sie sich vorstellen, jemals wieder in ihrem Beruf zu arbeiten?

Orths: Was denken Sie, nachdem Sie "Lehrerzimmer" gelesen haben?

 

Markus Orths, geb. 1969 in Viersen, lebt und arbeitet in Karlsruhe. Er studierte Philosophie, Romanistik und Englisch und arbeitete als Englischlehrer, bevor er beschloss, sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Für seine Erzählungen wurde er mit dem Moerser Literaturpreis ausgezeichnet. Er gewann den Open Mike, einen der wichtigsten Literaturwettbewerbe für junge Schriftsteller, und erhielt zuletzt den Marburger Literaturpreis für seinen ersten Roman "Corpus". Er ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Konzepte".

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 20.03.2003
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