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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 20.01.2003:

"Selbstständigkeit ist, dass man die Fächer auf sich zuschneidet"

Zwischen Steuergruppe und Drittelparität: Schüler sprechen mit

Schülerstimmen im Brennpunkt
Das Schillergymnasium ist eine von 237 Schulen im Großprojekt "Selbstständige Schule NRW". Es liegt inmitten eines gemütlichen Studentenviertels, nahe der Universität zu Köln. Sein Wahrzeichen ist eine grüne Kuppel, die eine Sternwarte beherbergt. Der Blick durch das Fernrohr öffnet dem Auge Räume in unendlichen Weiten, die im Alltag verborgen bleiben. Verborgen bleiben im schulischen Alltag auch die Meinungen der Schülerinnen und Schüler, die Neuerungen in der Schule an der eigenen Haut erleben.

 "Ich finde, dass sich jetzt noch nicht viel geändert hat, aber man hat das Gefühl, dass sich für die Zukunft etwas ändert." Moritz Lauvenberg, 18, ist Schülersprecher des Schillergymnasiums und geht in die 12. Stufe. Jonas Buing, 19, und Lia Pack, 19, beide 13. Stufe, sind von der Schulversammlung in die schulische Steuergruppe gewählt worden. Diese setzt sich aus sechs Lehrern, drei Eltern und zwei Schülern zusammen. Die Gruppe ist eine Art Exekutive der schulischen Selbstständigkeit. "Lia und Jonas sind in der Steuergruppe und direkt am Veränderungsprozess beteiligt. Sie entscheiden, was sie wollen und was sie nicht wollen, was die Schülerschaft haben möchte", sagt Moritz. Doch weil Lia und Jonas bald Abitur machen, werden sie die vollendete Mündigkeit ihres Gymnasiums bald nur noch von Weitem sehen können.

Einige Veränderungen zeichnen sich bereits jetzt ab. Die Meinungen der Schülerinnen und Schüler sind etwas wert: "Man wird gefragt, was man davon hält, was man dazu machen möchte", sagt Moritz; Lia ergänzt ihn: "Viele Dinge sind noch in der Planung." Dadurch, dass Lia in der Steuergruppe mitarbeitet, kann sie hinter die Kulissen sehen und lernen, wie Schüler, Lehrer und Eltern ihrem Planet "selbstständige Schule" Gestalt geben: "Früher wusste ich nur, dass das Schillergymnasium mitmacht, aber ich wusste nicht konkret, um was es geht. Heute bekommt man Strukturen mit, die dahinter liegen."

"Doch es geht immer vorwärts"
Ein Blick hinter die Kulissen: Das Schillergymnasium hat so etwas wie eine Tradition in Schulentwicklung. Bereits 1982 hat die Schule ein Schulprogramm entwickelt, das in "einem sehr aufwändigen Diskussionsprozess verabschiedet worden ist", sagt Anni Schulz-Krause, Schulleiterin des Gymnasiums. Die Individualität der Schule war so weit ausgeprägt, dass sich die Schule traute, im Jahr 2000 an dem landesweiten Wettbewerb "Qualität schulischer Arbeit" mitzumachen. Prompt landete die Schule auf dem dritten Platz. Erst im September 2002 hat das Schillergymnasium den Kooperationsvertrag mit dem Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen unterschrieben. Darin hat sich das Schillergymnasium auf drei Entwicklungsziele festgelegt: Lehrgang Neue Medien in der Sekundarstufe I, fremdsprachliche Module im Fachunterricht und das Projekt Bühnenkunst.

Ein zentrales Projekt steckt hinter dem Etikett "Know-How-Raum". Hier können die Schülerinnen und Schülern einen Internetzugang nutzen. Schüler der siebten und achten Klasse erwerben hier den Internet-Führerschein. Kleine Schülergruppen klicken sich durch die Welt und lernen Erdkunde am Bildschirm. Und Schüler unterrichten Schüler: Den Kurs in "Webdesign" leitet Thomas Block, Stufe 13. Die Pennäler nehmen das Internetangebot gerne an und verbringen ihre Freizeit sinnvoll - Internet sticht Kaffeeraum aus. Der Know-How-Raum ist also ein regelrechtes Selbstlernzentrum.

Lia und Jonas sprechen mit, wenn es um die Verteilung von Mitteln geht, denn "selbstständige Schulen" verwalten ihr Budget eigenständig. So wird der schulische Alltag zum erweiterten Selbstlernzentrum. Doch das Studium der Finanzen gleicht dem Blick in tiefe Krater: "Das Problem, das wir am Anfang hatten, war, dass wir uns erst einmal einarbeiten mussten. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten zu rechnen. Für einen Schüler ist es manchmal schwierig nachzuvollziehen, wo die Unterschiede liegen. Doch es geht immer vorwärts", sagt Lia. Durch das Modellvorhaben konnte die Halbtagsstelle einer Internetexpertin finanziert werden.

Der kleine Unterschied: Schüler als Funktionäre
Seit dem neuen Schuljahr hat sich die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern offensichtlich verbessert. Allerdings gibt es noch eine Schieflage: "Bei uns, Schülervertretern, ist es so, dass wir ein engeres Verhältnis zu den Lehrern haben. Das gilt für Schüler, die in Schülerverwaltung, Schulkonferenz oder Steuergruppe engagiert sind. Bei den anderen Schülern ist das nicht unbedingt der Fall", sagt Moritz.

Schülerinnen und Schüler wollen verstärkt Inhalte des Unterrichts beeinflussen. Der Schülersprecher: "Ich finde es gut, dass mit dem Modellvorhaben für die Schüler ein freierer Unterricht entsteht, z.B. durch mehr Projekttage. Es sollte eine Möglichkeit bestehen, dass eine Unterrichtsreihe in jedem Jahr gestaltet wird, die dem Wunsch der Schüler entspricht."

Die Schülervertreter des Schillergymnasiums bejahen die Neuerungen, die an dem Schillergymnasium im Gange sind. Doch offensichtlich gehen die Neuerungen ihnen noch nicht weit genug: "Wichtig ist, dass der Schreibkram abgeschafft wird. Er verlangsamt alles und belastet die Schule, die Regierung. Es müsste mehr Vielfalt im Unterricht angeboten werden, mit der Möglichkeit zu wählen." Lia spannt den Bogen noch ein wenig weiter: "Der nächste Schritt zur Selbstständigkeit ist, dass man die Fächer auf sich zuschneidet."

Wunsch wird Wirklichkeit
Im Gymnasium Oberhaching in Bayern haben die Schülerinnen und Schüler dazu Gelegenheit. Nicola Stoll, 17, ist seit zwei Jahren Schülersprecherin des Gymnasiums Oberhaching. "Wir haben jetzt ein neues Projekt mit Namen ZFU: Zeit für uns. Die Schüler haben einmal in der Woche Zeit für Unterricht, den sie selbst gestalten können." Die frische Brise im Unterricht kommt nicht von Ungefähr. Die Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums haben zuvor Fortbildungen genossen zum Thema: "Schüleraktivierende Methoden". Nun entwickeln die Schüler der bayerischen Vorzeigeschule den Stoff eigenständig mit, den sie sich erarbeiten sollen. Voraussetzung ist, dass der reguläre Lehrplan durch den schülerinitiierten Unterricht nicht durcheinander gebracht wird.

Auch der "lästige Hausaufsatz" in der alten Form wurde abgeschafft. Beim Hausaufsatz bekommt der Schüler ein Thema gestellt und hatte etwa zehn Tage Zeit, die Aufgabe zu bearbeiten. Heute können die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe mündlich präsentieren. Dabei können sie verschiedene Medien einsetzen, wie Power-Point, Beamer, Metaplan oder Film. Nicola ist "Feuer und Flamme", seit die Schule durch MODUS21 auf eigenen Füßen steht: "Im Moment bin ich wunschlos glücklich".

Noten für alle
Das Gymnasium Oberhaching hat erste Erfahrungen in Schulentwicklung bereits vor der Teilnahme an MODUS 21 gesammelt. MODUS 21 bedeutet "Modell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert". Und vor dem Abenteuer "Selbstständigkeit" hat sich die Schule nach dem EFQM-Modell, European Foundation of Quality Management, selbst bewerten lassen. Gerüstet mit dem Wissen über die Stärken und Schwächen der Schule kam dem Gymnasium die Teilnahme an MODUS21 gelegen, um "Verbesserungsmaßnahmen umzusetzen", so Schulleiterin Karin Oechslein. Das Gymnasium hat neben dem verpflichtenden Bereich "Unterricht und Erziehung" das Feld "Personalmanagement" ausgesucht. Bei Supervisionen z.B. können Lehrerinnen und Lehrer die eigene Lehrpraxis reflektieren. Es scheint, als sei eine höheres Maß an Gegenseitigkeit in den Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern hergestellt. Lehrer bewerten Schüler, doch Schüler auch Lehrer: "Es gibt jetzt Befragungen auf freiwilliger Basis, dass die Lehrer sich von den Schülern bewerten lassen", sagt Nicola.

Zeit für Demokratie
Vor der Zeit des Stürmens und Drängens gab es Bedenken: "Im Kollegium haben wir sehr umfassend diskutiert, weil es Fragen gab, wie: Macht es jetzt mehr Arbeit? Was kommt auf uns zu?", sagt Karin Oechslein. In der "Gesprächsrunde für Schulentwicklung", eine "Art der Demokratie", kommen Schüler, Eltern und Lehrer regelmäßig zusammen. Hier kann jede Partei Themen einbringen. Die Folge ist so etwas wie ein korporativer Geist: "Momentan ist Kreativität pur, Ideen sprießen", sagt Karin Oechslein. "Es läuft so, wie wir es uns alle vorstellen", ergänzt die Schülersprecherin.

Kultusministerien in Bayern und in Nordrhein-Westfalen fördern die neue Meinungsfreiheit in den Modellschulen. Von ganz oben sei es erwünscht, dass "Schülerinnen und Schüler aus allen Ebenen einbezogen werden", so Daniel Voelsen, Landesschülervertretung NRW. Für ihn ist "mehr Mitbestimmung nicht Anarchie, sondern positiv für die Schulgemeinschaft." Die neuen Freiräume, die Kultusministerien den Schulen in Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen eröffnen, müssen erst tatsächlich genutzt werden. 

Schulen in neuen Abhängigkeiten?
Die Landesschülervertretung von Nordrhein-Westfalen begrüßt das Modellvorhaben "Selbstständige Schule" grundsätzlich: "Entscheidungen sollten dort getroffen werden, wo sie sich konkret auswirken", sagt Voelsen. Dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer auf ihre neuen Aufgaben in Fortbildungen geschult werden, bestehe die Chance, dass der Unterricht verbessert werde. Doch profitiere der Schulleiter am meisten: "Der Schulleiter wird Dienstvorgesetzter und bekommt eine ganze Reihe anderer Kompetenzen. Wir möchten, dass die Entscheidungen, die jetzt der Schulleiter trifft, in der Schulkonferenz getroffen werden. Schließlich werden da die Interessen aller berücksichtigt."

Der Landesschülervertreter hat einen bedrohlichen Sternenhaufen erspäht: Die Unternehmen. Da die Schulen im nordrhein-westfälischen Modellvorhaben ihr Budget selbst verwalten, müssten viele Schulen Drittmittel suchen und Partnerschaften mit Unternehmen eingehen. Dazu Voelsen: "Da die Schulen die Finanzen selbst verwalten, kann es schon passieren, dass die Schulen Zusagen von Unternehmen bekommen, auf die sie sich verlassen und durch die sie dem Druck der Unternehmen ausgesetzt werden."

Er befürchtet die Abhängigkeit der Schulen von der Wirtschaft, und für Voelsen hat die Furcht eine Kontur: "Wir kritisieren in erster Linie die Beteiligung der Bertelsmann Stiftung. Wir lehnen es ab, dass die Wirtschaft Einfluss auf Schule und Schulpolitik nimmt. Die Verbindung zwischen dem Unternehmen Bertelsmann und der Stiftung sind doch sehr eng." Die ideale selbstständige Schule "muss so ordentlich finanziert werden, dass Schulen nicht darauf angewiesen sind, aus anderen Quellen Geldmittel zu beschaffen, die sie dann in Abhängigkeit bringen", sagt Voelsen.

Daniels Vision einer idealen Schule gleicht einer Milchstraße, die jede Schülergeneration aufs Neue in den Bann zieht: "Alle Beteiligten müssen gleichmäßig einbezogen werden. Das ist der alte Traum der Schülervertretung nach einer vernünftigen Mitbestimmung, der Drittelparität." Drittelparität bedeutet, dass in der Schulkonferenz Schüler, Eltern und Lehrer das gleiche Stimmengewicht haben. Es gibt bereits Schulen, die das umsetzen.

 

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 20.01.2003
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