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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 19.12.2002:

Deutschland auf dem Weg zur Ganztagsschule?

Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern verhindert rasche Einigung

 "Zukunft Bildung und Betreuung" heißt das Programm, das Deutschlands Schulen auf die Spur der PISA-Sieger führen soll: 4 Milliarden Euro will Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) bis in das Jahr 2007 in den Ausbau von 10.000 Ganztagsschulen, vornehmlich Grund- und weiterführende Schulen bis zur zehnten Klasse, investieren. Natürlich weiß man auch in Berlin, dass eine kosmetische Korrektur der Organisationsform allein nicht ausreicht, um das deutsche Schulsystem aufzupolieren. Ein sinnvolles pädagogisches Konzept von Schulen und Ländern ist deshalb die Voraussetzung für eine Zahlungsanweisung aus Berlin.

Ein Blick auf die Erstplatzierten bei der PISA-Studie führt die Vorteile der Ganztagsschule deutlich vor Augen: Leistungsschwache Schüler können ebenso wie Hochbegabte individuell gefördert und Migranten durch Sprachkurse besser integriert werden - Bildungsbarrieren abbauen und soziale Ausgrenzung verhindern in bildungspolitischen Termini. Doch nicht nur das Mehr an Zeit ist für anspruchsvollen Unterricht und gute Betreuung verantwortlich, sondern auch Sportvereine, Kirchen, Musikschulen und andere externe Partner, die frischen Wind in die Schulen bringen. In der "gebundenen" Form der Ganztagsschule, die Kritiker auch schon mal "soziale Zwangsbeglückung für alle" nennen, ist die Teilnahme verpflichtend, bei der "offenen" Variante sind die Angebote am Nachmittag freiwillig. Mit dieser Lösung scheinen sich momentan alle Beteiligten anfreunden zu können. 

Doch die Länder stecken auch ohne die ideologischen und parteipolitischen Vorbehalte in der Zwickmühle: Einerseits wollen sie natürlich auf den zusätzlichen Geldsegen nicht verzichten, fürchten aber um ihre Autonomie und wollen sich keinesfalls bei der Verwendung der Mittel reinreden lassen. Hans Zehetmair, Wissenschaftsminister in Bayern, spricht Klartext: "Der Bund, der das Gehalt keines einzigen Lehrers bezahlt, mischt sich damit in die Kernkompetenz der Länder ein und versucht dort zu glänzen, wo er nichts zu sagen hat". Das Grundgesetz untersagt es dem Bund, Lehrer auszubilden, einzustellen oder zu bezahlen. Deshalb sollen die 4 Milliarden Euro für Speisesäle, Turnhallen und neue Musikräume ausgegeben und die Personalkosten aus den Länderkassen bezahlt werden. Das bedeutet bis zu 30 Prozent an Mehrkosten, die für die Länder schwer zu schultern sind. Einer Mischfinanzierung, die auch die Kommunen vor den Karren gespannt hätte, hat der Deutsche Städtetag bereits einen Korb gegeben. Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) bezeichnet die 400.000 Euro pro Schule als "jämmerlich und realitätsfern". Darüber hinaus wollen sich die Kultusminister nicht vorschreiben lassen, wofür sie "die Almosen des Bundes" ausgeben, so Monika Hohlmeier (CSU), die bayerische Kultusministerin. Ihre Kollegin Karin Wolff (CDU) aus Hessen kündigte bereits an, die 270 Millionen Euro, die hessischen Schulen zustehen, in Schulbibliotheken investieren zu wollen, denn Lesen sei schließlich die Grundvoraussetzung für Lernen.

Die Diskussion ist eröffnet, wer was unter einem sinnvollen pädagogischen Konzept versteht. Ohne die Länder bleibt Bildungsministerin Bulmahn auf ihren vier Milliarden Euro sitzen. Eine Einigung ist noch nicht in Sicht, obwohl einige Länder laut Spiegel bereits ein Einlenken signalisiert haben. Stefan Appel, der Leiter des Ganztagsschulverbands sieht die Gefahr, dass jedes Bundesland nun sein eigenes pädagogisches Konzept entwickelt, das aufgrund fehlenden Geldes leicht zu einer "normalen Halbtagsschule mit angeschlossener Suppenküche" werden könne. Klaus Hebborn, Schulreferent beim Deutschen Städtetag, ärgert sich, dass überhaupt kein vernünftiges, einheitliches Konzept in Sicht sei und prophezeit bereits die "Ganztagsschule light".

Deutschland ist nicht erst seit PISA ein weißer Fleck auf der internationalen Landkarte der Ganztagsschulen. Die deutsche Halbtagsschule ist ein Sonderfall in Europa und hält sich deshalb so hartnäckig, weil sie eng mit anderen Strukturmerkmalen des Sozialsystems verbunden ist: Vor allem mit der politisch getrennten Zuständigkeit für Kinderbetreuung und Bildung, dem von der Verfassung verbrieften Vorrang der Familie bei der Kindererziehung und der Dreigliedrigkeit des Schulsystems, das die frühe Kanalisierung der Schüler in bestimmte Schulformen unterstützt. Im Jahr 2001 waren von 40.000 staatlichen Schulen lediglich 1654 Ganztagsschulen. Das entspricht einer Quote von 5,4 Prozent. Berlin liegt mit 32 Prozent an der Spitze, während Bayern und Sachsen die Schlusslichter bilden.

Auch aus diesem Grund wird die Diskussion im Jahr 2002 um das Für und Wider der Ganztagsschule nicht ohne ideologische Scheuklappen geführt. So verursacht das Wort Betreuung vielen Kritikern der Ganztagsschule noch Kopfschmerzen. Überhaupt sehen sie in der Ganztagsschule kein bildungspolitisches, sondern ein sozialpolitisches Instrument für berufstätige Eltern. Doch diese Argumente zielen ins Leere, denn die Diskussion ist schon längst weitergezogen: Betreuung bis 16 Uhr macht nur Sinn, wenn gut ausgebildetes Personal und ein pädagogisches Profil vor Ort sind. Und wenn darüber hinaus die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in greifbare Nähe rückt, umso besser. Dass ein Mehr an Betreuungsangeboten seinen Niederschlag in der Geburtenrate findet, zeigt ein Blick in die Nachbarländer: Wo Ganztagsschulen üblich sind, ist nicht nur die Zahl der erwerbstätigen Frauen höher, sondern auch die Geburtenrate. Im Westeuropa-Vergleich ist im kleinen Island die Frauenerwerbsquote am höchsten - und die Geburtenrate ebenfalls. In Zeiten, in denen der Generationenvertrag aufgekündigt und sich die Sozialsysteme in arger Schieflage befinden, ein Beispiel, das Hoffnung macht.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 19.12.2002
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