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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 03.09.2015:

„Begleitung ist essenzieller Erfolgsgarant!“

Herausforderungen der Beschulung von Flüchtlingskindern
Das Bild zum Artikel
Dr. Robert Geiger

Welche Schulen besuchen Kinder von Flüchtlingen in Deutschland? Welche Sprachfördermöglichkeiten gibt es? Und welche Aufgaben stellen sich dabei für die Lehrkräfte? Darüber sprach die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ mit Dr. Robert Geiger, Leiter der Stabsstelle Flüchtlingsbeschulung im Bayerischen Staatsministerium für Bildung, Kultus, Wissenschaft und Kunst.

Online-Redaktion: In Deutschland herrscht Schulpflicht. Wie ist sie für Kinder von Flüchtlingen geregelt, die nach Deutschland kommen?

Geiger: Die Vollzeitschulpflicht ist in allen Ländern ähnlich. Sie besteht zwischen sechs und 15 Jahren, unabhängig vom Aufenthaltsstatus oder von sonstigen Regelungen. Die Kinder kommen ihrem Alter und ihrer Vorbildung entsprechend auf die Grund- und Mittelschulen bzw. Hauptschulen. In der Berufsschulpflicht unterscheiden sich die Modelle. In Bayern unterliegen die Flüchtlinge unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Berufsschulpflicht. Die gesetzliche Regelung hierfür besteht aus einer eintägigen Schulpflicht pro Woche für maximal drei Jahre im Alter von 16 bis 21 Jahren. Bayern bietet jedoch Flüchtlingen, Migranten aus europäischen Mitgliedstaaten und anderen Seiteneinsteigern ohne Deutschkenntnisse ein darüber hinausgehendes zweijähriges berufsvorbereitendes Unterrichtsangebot an. In Ausnahmefällen werden auch Asylbewerber und Flüchtlinge bis 25 Jahre aufgenommen. Es gibt bisher kein anderes Bundesland, das Jugendlichen über 21 die Aufnahme in die Berufsschule erlaubt. Ziel ist, die Jugendlichen nach den zwei Jahren in Ausbildung zu bringen. Ein Jahr Vorbereitung reicht hierfür nur in den seltensten Fällen aus. In den anderen Ländern ist die Berufsschulpflicht teilweise abhängig vom Aufenthaltsstatus oder gilt z.B. nur für Schüler, die einen Ausbildungsvertrag haben. Mittlerweile gibt es in vielen Ländern aber abweichend von den schulgesetzlichen Verpflichtungen Programme für Seiteneinsteiger und Flüchtlinge, die sich an dem bayerischen Modell orientieren, wie zum Beispiel in Hamburg.

Online-Redaktion: Welche Sprachfördermöglichkeiten gibt es für Flüchtlingskinder in Bayern?

Geiger: Werden die Kinder in Regelklassen an Grund- und Mittelschulen aufgenommen, so erhalten sie parallel zum Unterricht in der Regelklasse eine Sprachförderung in Deutschförderklassen und Deutschförderkursen. In den Deutschförderklassen bekommen die Schüler eine intensive Deutschförderung von 14 bis 15 Stunden pro Woche. In den Deutschförderkursen sind es bis zu vier Stunden pro Woche. Wenn genügend Kinder eines Alters an einer Schule sind, die über keine oder nur wenige Deutschkenntnisse verfügen, können auch so genannte Übergangsklassen gebildet werden. Gerade in Ballungsgebieten bieten sie sich an, da dort der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund in Regelklassen hoch ist und Deutschförderung sowieso schon Anteil des Unterrichtsprinzips ist. Hier wäre eine direkte Integration der Flüchtlingskinder schwieriger. Sie wechseln dann nach ca. einem Jahr von der Übergangsklasse in die Regelklasse. In der Berufsvorbereitung werden nur eigene Klassen gebildet.

Online-Redaktion: Wie verläuft das Pilotprojekt, das in Kürze an bayerischen Realschulen und Gymnasien startet?

Geiger: Ab September gibt es an zwei Realschulen und zwei Gymnasien in München und in Nürnberg so genannte Sammelkurse (Gymnasium) bzw. Sprachintensivklassen (Realschulen). Damit wollen wir erproben, wie man Seiteneinsteiger, zurzeit vor allem Jugendliche mit Fluchthintergrund, am besten in diese Schulformen integrieren kann. In den Realschulen werden sie in den Regelklassen aufgenommen und parallel dazu intensiv in Deutsch gefördert, auf den Gymnasien werden Sammelkurse eingerichtet, in denen sie ähnlich wie in Übergangsklassen auf die Regelklasse vorbereitet werden. Ich gehe davon aus, dass wir das Modell zum nächsten Schuljahr stark ausweiten werden.

Online-Redaktion:
Flüchtlinge im Alter von 18 bis 25 Jahren haben es meist besonders schwer, da sie nicht mehr unter die Schulpflicht fallen. In Bayern gibt es das einzigartige zweijährige Modell der Berufsvorbereitung in Berufsintegrationsklassen, das bundesweit Anerkennung findet. Seit wann gibt es das Modell, und wie ist es aufgebaut?

Geiger: Es wurde 2010 in einem Versuch in Nürnberg gestartet, dann auf München ausgeweitet und danach in die Fläche gebracht. Aktuell gibt es in Bayern 260 Klassen mit 4.500 Plätzen, ab dem Schuljahr 2015/2016 werden in den so genannten Berufsintegrationsklassen mehr als 8.200 Jugendliche unterrichtet. Angesichts der aktuellen Erhöhung der Prognosen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kann es jedoch sein, dass es sogar noch mehr werden. Im ersten Jahr steht der Spracherwerb im Vordergrund, das Kennenlernen der Kultur und der mitteleuropäischen Werte. Neben dem Spracherwerb ist ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man mit einer Berufsausbildung in unserer Gesellschaft eine vollständige Teilhabe erlangen und Karriere machen kann, die größte Herausforderung. In den Herkunftsländern spielt die berufliche Bildung oft keine Rolle. Viele haben Berufswünsche wie Arzt oder Ingenieur, und es bedarf einer großen Anstrengung, mit ihnen einen realitätsnäheren Berufswunsch zu erarbeiten. Im zweiten Jahr wird die Sprachförderung fortgeführt und die Berufsvorbereitung eingeführt. Es geht jetzt um die Berufsfindung. Das ist eine schwierige Entscheidung, und wir benutzen hier ähnliche Instrumente wie bei den Mittelschülern: eine Mischung aus Selbstfindung, Berufsorientierung und Betriebspraktika, um herauszufinden, für welchen Bereich sich die Jugendlichen geeignet fühlen. Nach den zwei Jahren erhalten sie den Mittelschulabschluss und gegebenenfalls den qualifizierten Mittelschulabschluss.

Online-Redaktion: Müssen alle Jugendlichen einen deutschen Abschluss nachholen, oder wird der Abschluss des Herkunftslandes anerkannt?

Geiger: Das Problem ist, dass die wenigsten Jugendlichen, die einen anerkennungswürdigen Schulabschluss erworben haben, den Nachweis dabei haben. Er geht auf der Flucht verloren oder wird manchmal auch bewusst vernichtet, damit sie noch in das jugendhilfefähige Alter fallen. Wer als minderjähriger unbegleiteter Jugendlicher nach Deutschland kommt oder darauf eingeschätzt wird, unterliegt der Jugendhilfe mit den gleichen Rechtsgrundlagen und Möglichkeiten wie ein deutscher Jugendlicher, der seine Familie verloren hat. Sie wohnen in Jugendhilfeeinrichtungen, bekommen einen Vormund und werden sozialpädagogisch begleitet. Auch werden sie dann nur in ganz seltenen Fällen abgeschoben. Wenn jedoch Dokumente über einen Schulabschluss vorliegen, werden diese durch die so genannte Zeugnisanerkennungsstelle geprüft und einem deutschen Schulabschluss zugeordnet.

Online-Redaktion: Kinder von Flüchtlingen sind häufig traumatisiert. Wie kommen sie in dem fremden Land zurecht? Schaffen sie es, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen, oder müssen Lehrer immer wieder Aufbauarbeit leisten?

Geiger: Die Aufbauarbeit ist ein ständiges Thema. Vor allem im Berufsschulbereich kommt es öfter vor, dass mal einer nicht zur Schule kommt. Dann wird Kontakt aufgenommen und unter Berücksichtigung des Datenschutzes nachgefragt. Wenn offensichtlich ist, dass ein Trauma aufgebrochen ist, wird darauf geachtet, dass der Jugendliche in der Jugendhilfeeinrichtung gut betreut wird. Bei Jugendlichen mit Familienanschluss oder bei über 18-jährigen ist leider die Betreuung außerhalb der Schule nicht gewährleistet. In der Schule können zwar Traumata von Schulpsychologen erkannt werden und eine Erstbetreuung erfolgen, aber keine Therapie. Jugendliche, die nicht in der Obhut der Jugendhilfe sind, sind auf die inzwischen gut ausgebauten lokalen und regionalen Unterstützernetzwerke angewiesen, über die die Jugendlichen dann eventuell in Behandlung kommen.

Online-Redaktion: Gerade in den berufsvorbereitenden Klassen, in denen überwiegend elternlose Jugendliche sind, werden Lehrer schnell auch Respekts- und Vertrauensperson und ein bisschen Elternersatz. Wie werden die deutschen Lehrkräfte auf diese Aufgaben und Herausforderungen vorbereitet?

Geiger: In der Lehrerausbildung gibt es zwar bisher wenig Angebote - die Studierenden können lediglich Kompetenzen im Fach Deutsch als Zweitsprache erwerben, und an der TU München konnten wir zusammen mit der Universität im Berufsschulbereich ein neues Unterrichtsfach einrichten, das sich explizit mit dem Unterricht mit Seiteneinsteigern bzw. mit Schülern mit Migrationshintergrund beschäftigt -, aber die Lehrkräfte, die schon unterrichten, werden auf allen Ebenen (schulintern, regional und zentral für ganz Bayern) in Fortbildungen auf diese Aufgabe vorbereitet bzw. darin begleitet. Uns ist wichtig, dass sich die Lehrkräfte nicht allein gelassen fühlen! Jede Lehrkraft, die erstmals in einer Klasse mit Flüchtlingen unterrichtet, wird in einem zweieinhalbtägigen Lehrgang für diese Aufgabe sensibilisiert, mit Informationen und Unterrichtsmaterial versorgt und auf diese komplexe Aufgabe vorbereitet. Mittlerweile haben wir einen guten Material- und Informationspool. Die Inhalte reichen von rechtlichen Informationen bis hin zu Informationen über das Netzwerk aus Beratungslehrkräften, Sozialpädagogen und Schulpsychologen, das für die Lehrer und Schüler da ist, und natürlich entsprechenden Unterrichtsmaterialien. Darüber hinaus gibt es einen Aufbaulehrgang, in dem sich die Lehrkräfte untereinander über ihre Erfahrungen austauschen können.

Online-Redaktion: Im Oktober 2014 wurde am Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst die Stabsstelle Flüchtlingsbeschulung eingerichtet, deren Leiter Sie sind. Welche Maßnahmen werden von ihr organisiert und koordiniert?

Geiger: Hauptaufgabe ist die Weiterentwicklung der Beschulungskonzepte, die übergeordnete Organisation des Unterrichts sowie die Organisation und Weiterentwicklung von Fortbildungsmaßnahmen. Die zuvor genannten Sprachfördermaßnahmen und Fortbildungen waren schon vor der Stabsstelle da. Deren massive Ausweitung und die Organisation des Ganzen sind ein Ergebnis der Stabsstelle. Eine weitere große Aufgabe ist, Ansprechpartner für die anderen Ministerien zu sein, die mit der Betreuung von Asylbewerbern und Flüchtlingen betraut sind. Mit dem Sozialministerium, das für Unterbringung und Versorgung zuständig ist, sowie mit dem Innenministerium, das für aufenthaltsrechtliche Fragen zuständig ist, stehen wir - die Stabsstelle hat noch sechs weitere Mitglieder aus den Schulabteilungen, der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung sowie aus dem Finanzbereich - in sehr intensivem Kontakt. Es machte keinen Sinn mehr, dass jeder Bereich für sich nach Lösungen sucht, ein konzertiertes Vorgehen war erforderlich.

Online-Redaktion: Was ist Ihre Aufgabe als Leiter der Stabsstelle?

Geiger: Neben der Organisation und Koordination der eben genannten Aufgaben bin ich der zentrale Ansprechpartner für Landtagsangelegenheiten und zuständig für die Kontakte zu den Jugendmigrationsdiensten sowie den Wohlfahrtseinrichtungen und -verbänden, die ja auch sehr stark mit den Schulen verknüpft sind. Es ist uns wichtig, dass immer alle aktuell informiert sind, z.B. die Wohlfahrtsverbände sowie der Städtetag und der Landkreistag als Organe der Landkreise und Kommunen, die ja den Sachaufwand der Schulen tragen. Für diese Zusammenarbeit war die Einrichtung der Stabsstelle sehr wichtig. Es immer besser, wenn es einen Ansprechpartner gibt, der die Fäden in der Hand hält.

Online-Redaktion: Wie tauschen sich die Bundesländer über die Beschulungsmodelle von Flüchtlingskindern aus?

Geiger: Dafür gibt es Ausschüsse und Arbeitsgruppen bei der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK). Von daher wissen wir auch, wie die unterschiedlichen Beschulungssysteme sind und dass die Betroffenheit der Länder unterschiedlich ist. Es gibt zum Beispiel eine starke Ungleichverteilung bei den unbegleiteten Flüchtlingen. Bisher war es so, dass die Jugendlichen dort in Obhut genommen wurden, wo sie ankamen, und nur die Kosten auf alle Bundesländer verteilt wurden. Das funktionierte gut, solange es nur wenige waren. Im Bereich der unbegleiteten Minderjährigen hatte Bayern, das ja an den zwei Hauptfluchtrouten liegt, im Jahr 2013 rd. 500 Neuzugänge. 2014 waren es aber schon rd. 3.500, und 2015 rechnen wir mit einer Zahl zwischen 10.000 und 15.000 unbegleiteten Jugendlichen. Da stößt unsere Jugendhilfe natürlich an ihre Grenzen, während andere Länder kaum betroffen sind. Eine gesetzliche Neuregelung sorgt deshalb dafür, dass ab dem 1. Januar 2016 die unbegleiteten Minderjährigen innerhalb Deutschlands gleichmäßig nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt und erst in den jeweiligen Bundesländern in Obhut genommen werden. Bezahlung und Versorgung erfolgen dann von einem Land.

Online-Redaktion: Wie gelingt die Beschulung in Bayern? Wie viele Flüchtlingskinder schaffen den Weg zum Schulabschluss und zur Berufsbildung bzw. zum Studium?

Geiger: Aus datenschutzrechtlichen Gründen können wir die Jugendlichen nicht eins zu eins verfolgen, sobald sie im Studium, der Ausbildung oder der weiterführenden Schule sind. Bisher haben wir unsere Kenntnisse daher von engagierten Lehrkräften, zu denen die Schüler Kontakt gehalten haben. Da wir dieses Jahr erstmalig eine große Zahl an Absolventen haben (1.100 Jugendliche), konnten wir jetzt ein systematisches Monitoring etablieren, dass auf freiwilligen Angaben und Rückmeldungen der Abgänger besteht. Wir wissen, dass ca. 60 Prozent einen Ausbildungsvertrag erhalten haben, einige in andere Angebote gehen und andere die zweite Klasse wiederholen. Pauschal kann man aber sagen, dass Ausbildung und weiterführende Schule erfolgreich gelingen, wenn die Jugendlichen weiterhin begleitet werden. Begleitung ist essenzieller Erfolgsgarant! Infolgedessen begrüßen wir natürlich sehr, dass z.B. das Instrument der assistierten Ausbildung von der Bundesagentur für Arbeit eingeführt wurde. Zwar leider bisher nur für anerkannte Flüchtlinge, aber bei den anderen Geduldeten wird die erforderliche Voraufenthaltsdauer in Deutschland zum 01.01.2016 von 48 Monaten auf 15 Monate gekürzt. Das finden wir sehr gut, weil dann gewährleistet wird, dass ein Jugendlicher während der Ausbildung weiter gefördert und begleitet werden kann. Wenn die Jugendlichen jemanden haben, von dem sie wissen, dass er sich ab und zu um sie kümmert, läuft alles besser. So kann verhindert werden, dass die aufgenommene Berufsausbildung wegen kleiner Hindernisse, die es immer mal geben kann, abgebrochen wird.


Dr. Robert Geiger, Leiter der Stabsstelle für Flüchtlingsbeschulung im Bayerischen Staatsministerium für Bildung, Kultus, Wissenschaft und Kunst. Zuständig für Grundsatzfragen der beruflichen Schulen, Planung und Statistik, überregionale und internationale Angelegenheiten.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 03.09.2015
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