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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 08.09.2014:

„Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie nicht lesen und schreiben können.“

Analphabetismus in Deutschland
Das Bild zum Artikel
Ellen Abraham

Der Welttag der Alphabetisierung am 8. September erinnert jedes Jahr daran, dass es in vielen Ländern immer noch ein Privileg ist, lesen und schreiben zu können. Aber auch in Deutschland gibt es Analphabetismus. „Bildung + Innovation“ sprach mit Ellen Abraham, kommissarische Geschäftsführerin des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V., über die Situation hierzulande.


Online-Redaktion:
Wie viele Menschen können weltweit und speziell in Deutschland nicht lesen und schreiben?

Abraham: Es gibt weltweit etwa 781 Millionen Menschen, die nicht lesen und schreiben können. In Deutschland liegt die Zahl der so genannten funktionalen Analphabeten insgesamt bei 7,5 Millionen. Davon können circa 2,3 Millionen Menschen keinen kompletten Satz lesen. Die anderen können zwar besser lesen und schreiben, sind aber – häufig durch das nicht Anwenden der geschriebenen und gelesenen Sprache – unsicher und machen viele Fehler.

Online-Redaktion: Wie ist das für die Betroffenen, wie gehen sie damit um?

Abraham: Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie nicht (richtig) lesen und schreiben können, sehr unsicher sind. Oft wissen sie auch nicht, an wen sie sich wenden sollen, um die Situation zu verändern. Das bedrückt sie natürlich sehr. Sie sind unsicher, haben Angst zu versagen, aber auch Angst vor Veränderung. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben, werden vielleicht vom Partner unterstützt. Was passiert, wenn sich auf einmal die Rollen verändern? Das hindert viele daran, lesen und schreiben doch noch erlernen zu wollen. Manche trauen sich erst dazu zu stehen, wenn ihre Kinder in die Schule kommen und sie diese unterstützen möchten. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der Anzahl der Betroffenen und den Menschen, die tatsächlich in Kurse gehen.

Wichtig finde ich, dass die Kursangebote von Grundbildungspädagogen durchgeführt werden. Diese können Methoden und Wege aufzeigen, wie die Teilnehmenden ihr negatives Selbstbild positiv verändern können, und integrieren deren Ängste und Nöte in den Unterricht. Sie finden Wege für den einzelnen, wie er seinem Lerntyp entsprechend lernen kann und welche Methode für ihn oder sie die richtige ist. Eine große Unterstützung für die Zielgruppe sind auch Selbsthilfegruppen. Es tut den meisten Betroffenen gut, mit Menschen zu sprechen, die ähnliche Probleme haben oder hatten.

Online-Redaktion: Deutschland hatte sich zur Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen dazu verpflichtet, die Zahl der funktionalen Analphabeten stark zu reduzieren. Dies ist nicht hinreichend gelungen. 2011 hat die Bundesregierung eine nationale Strategie zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener beschlossen. Wie sieht diese Strategie aus?

Abraham: Im Rahmen der nationalen Strategie, die natürlich auch vom Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung e.V. unterstützt wird, gibt es sehr viele Anstrengungen seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), der einzelnen Bundesländer und anderer Organisationen, bereits laufende Projekte zu unterstützen sowie Netzwerke und Bildungszentren zu gründen. Auch werden inzwischen in einigen Bundesländern ESF-Mittel genutzt. Es gibt ja viele Aktivitäten in Deutschland, nur müssen sie erweitert und langfristig gesichert werden. D.h. sie dürfen nicht immer so projektabhängig sein.

Wichtig ist meiner Ansicht nach auch, dass es immer wieder Eyecatcher gibt, die die Zielgruppe direkt ansprechen. Wir hatten vor einigen Jahren einen Fernsehspot geschaltet, der emotional sehr viel bewegte. Wirkung zeigt auch die Ausstellung des BMBF „Lesen und Schreiben - mein Schlüssel zur Welt“. Der Bundesverband zeigt sie immer wieder in verschiedenen Städten und Bundesländern, um auch nicht Betroffene auf die Thematik aufmerksam zu machen. Denn die brauchen wir natürlich als Multiplikatoren.

Online-Redaktion: Wie könnte man die Situation nach Ansicht des Bundesverbands noch verbessern?

Abraham: Der Bundesverband hat das Alfa-Telefon als feste Einrichtung etabliert. Betroffene und Interessierte können die kostenlose Nummer 0800-53 33 44 55 wählen und erhalten eine neutrale und anonyme Beratung. Das wäre etwas, was dauerhaft unterstützt werden müsste. Wenn wir von allen Ländern Zuschüsse für das Alfa-Telefon bekämen, könnten wir als bundesweit agierende Institution die Anrufe deutlich länger entgegennehmen, eine erste Beratung vornehmen und die Gespräche im Bedarfsfall an die jeweiligen Länder weiterleiten. Das wäre optimal. Das BMBF hat zwar immer wieder zwischendurch das Alfa-Telefon finanziell unterstützt, aber es sollte eine dauerhafte Lösung gefunden werden. Auch müsste die Teilnahme an Kursen kostenlos und die Unterstützung durch Arbeitsagenturen möglich sein. Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern sollte auch für diesen Bereich aufgehoben werden, außerdem wäre eine politisch unterstützte stärkere Verknüpfung mit der Wirtschaft sinnvoll. Last but not least wären feste Arbeitsverhältnisse für Kursleitende wünschenswert.

Online-Redaktion:
Welche Projekte führt der Bundesverband noch durch?

Abraham: Sehr gut und wichtig sind die beiden Projekte, die wir im Augenblick haben. Mit der Kampagne iCHANCE sucht der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. neue Wege in der Ansprache und Motivation junger Erwachsener mit niedrigen Lese- und Schreibkompetenzen. Wir versuchen junge Leute mit Themen aus ihrem Umfeld, wie Hiphop, Slams oder Graffitis, für das Thema zu öffnen und bewegen sie dazu, selbst aktiv zu werden oder ihre Freunde dazu zu ermutigen, lesen und schreiben zu lernen. Indem wir sie in Bereichen ansprechen, in denen sie sich auskennen, geben wir ihnen das gute Gefühl, dass sie auch etwas gut können, was sie dann wiederum ggf. dazu veranlasst, auch lesen und schreiben besser lernen zu wollen oder andere auf das Thema anzusprechen.

Das andere Projekt heißt RAUS. Es wendet sich an junge Strafgefangene, die während der Haft lesen und schreiben lernen wollen, und an Personen, die im Vollzug, während und nach der Entlassung mit ihnen zu tun haben. Fünf Modellstandorte sind in das Projekt eingebunden. Die Mitarbeiter von RAUS entwickeln ein Konzept zur Ansprache und Motivation von Strafgefangenen, das bundesweit eingesetzt werden kann, und erarbeiten Lehr- und Lernmaterialien, die sie selbst im Unterricht testen und Lehrenden im Strafvollzug kostenlos auf www.raus-blick.de zur Verfügung stellen. Die gezielte Information von Akteuren in Justiz, Straffälligen-Hilfe und Übergangsmanagement über funktionalen Analphabetismus bildet – angesichts geschätzter 20 Prozent Gefangener mit Lese- und Schreibschwierigkeiten – die dritte Säule des Projekts.
Beide Projekte werden vom BMBF gefördert.

Online-Redaktion: Was ist der Alphabund?

Abraham: Der Alphabund ist ein Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), der für das BMBF die bundesweiten Projekte begleitet, koordiniert und die Tagungen organisiert, soweit sie nicht projektintern organisiert werden. Er übernimmt auch das Controlling und beobachtet, was gut läuft und was innerhalb der Projekte verändert werden müsste und wie man dann mit der Veränderung umgeht. Das ist eine wichtige Stelle. Ziele sind auch die Erstellung einer Webseite und einer Informationsbroschüre, auf denen man sich unter bestimmten Strukturoberbegriffen darüber informieren kann, welche Projekte es gibt, welche Schwerpunkte sie haben und welche Ergebnisse sie zeitig(t)en.

Online-Redaktion:
Das BMBF hat eine Initiative zur arbeitsplatzorientierten Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Alphabetisierung und Grundbildung für die Jahre 2012 bis 2015 gestartet. Mit der Förderung von 60 Projekten sollen neue Wege zur Alphabetisierung und Grundbildung entwickelt werden, um den Anteil funktionaler Analphabeten und Analphabetinnen in Deutschland langfristig zu senken. Wie wichtig ist die betriebliche Weiterbildung für Geringqualifizierte, die arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener?

Abraham: In meinen Augen ist es mit das wichtigste Thema überhaupt. Ich selbst habe ein großes Projekt in der ersten Förderperiode geleitet: „GRAWiRA“, das Akronym für Grundbildung, Alphabetisierung, Wirtschaft und Arbeit“, und wir haben in Hamburg, als ich das Zentrum für Grundbildung und Drittmittelprojekte an der Hamburger Volkshochschule geleitet habe, fünf Unternehmen gewonnen, die mitgemacht haben. Es ist uns gelungen, sehr interessante Kurse durchzuführen, in denen es nicht um lesen und schreiben lernen im eigentlichen Sinne ging, sondern um die Förderung der Schriftsprachkompetenz, der Kommunikation, das Lernen am anderen Gegenstand, am anderen Ort. Die Teilnehmer/innen stöberten durch Hamburg, schauten, was es dort zu lesen gab, besprachen sich und versuchten sich Dinge zu merken. Das ist ein ganz spannender Bereich, der in meinen Augen dringend ausgebaut werden sollte und von dem ich mir für die Unternehmen viel verspreche. Der Gewinn für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist enorm. Es geht ja vor allem auch in der Arbeitswelt darum, Potenziale zu sehen, zu entwickeln und zu fördern, und es besteht die Tendenz, dass immer die, die ohnehin schon gut ausgebildet sind, noch mehr Weiterbildungen bekommen, die anderen aber nicht. Die Teilnehmer dieses Projekts waren so glücklich, dass der Arbeitgeber auch einmal etwas für sie im Bereich der Weiterbildung getan hat. Es wäre großartig, wenn Unternehmen etwa alle zwei Jahre solche Initiativen zur Gewinnung dieser Zielgruppe ergreifen würden. So wächst die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, und gleichzeitig bindet man sie langfristig an das Unternehmen. Dabei muss natürlich für jedes Unternehmen in Absprache mit dem Betriebsrat und den Personalentwicklern sowie dem Weiterbildungsanbieter ein eigener Weg mit verbindlichen Vereinbarungen gefunden werden.

Ich habe dazu ein Buch geschrieben: „Betriebliche Weiterbildung für Geringqualifizierte: Ein Akquise-Leitfaden für Personalentwickler“ und werde in Kürze einen Aufsatz veröffentlichen: „Arbeitsplatzorientierte Grundbildung ‒ Herausforderung für eine veränderte Lernkultur in Unternehmen, Betrieben und Firmen“, denn es gibt auf allen Seiten ‒ seitens des Bildungsanbieters, des Unternehmens, aber auch der Mitarbeiter ‒ viele Herausforderungen, um die man wissen muss. Auch Kursleitende müssen beispielsweise andere Faktoren als bei einem Kurs an der VHS beachten. Das alles will vermittelt und gelernt sein.

Online-Redaktion:
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Abraham: Ich wünsche mir, dass die Bemühungen in diesem Bereich auch nach Ende der offiziellen Laufzeit der nationalen Strategie 2015 weiter forciert werden. Es ist wichtig, dass die Projekte langfristig fortgeführt werden, dass das Erarbeitete, entstandene Produkte zum selben Thema miteinander verglichen werden, in neue Projekte überführt, modifiziert, fortgeschrieben und auch vermarktet werden. Hier sehe ich auch ein Aufgabenfeld für den Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Aber wir haben Hoffnung. Es soll ja eine nationale Dekade geben, und auch die junge Zielgruppe soll nach Aussagen der Bildungspolitik in Zukunft intensiver gefördert werden, damit sie nicht erst 30 Jahre mit dieser Not lebt. Wünschenswert wäre auch, dass es dauerhaft Beschäftigte in diesem Bereich gibt, da den Unternehmen und den Weiterbildungseinrichtungen jedes Mal wieder eine Menge Kompetenz verloren geht und die Nachhaltigkeit gefährdet ist. Das ist schade, unwirtschaftlich und könnte anders strukturiert sein.



Ellen Christina Abraham, geb. Oehlert
, Hauptschullehrerin in Niedersachsen und Hamburg; sonderpädagogisches Aufbaustudium; Lehrerin an einer Sonderschule für Schüler mit geistiger Behinderung; Fachbereichsleiterin Alphabetisierung; Programmbereichsleiterin Grundbildung, Deutsch als Fremdsprache, Interkulturelle Bildung und Schulabschlüsse sowie Leiterin des „Zentrum Grundbildung und Drittmittelprojekte“ an der Hamburger Volkshochschule bis zur Pensionierung 2008; Projektleiterin des BMBF Projektes GRAWiRA (Grundbildung, Alphabetisierung, Wirtschaft u. Arbeit) bis Ende 2010.
Autorin des Buches: „Betriebliche Weiterbildung für Geringqualifizierte – Ein Akquise-Leitfaden für Personalentwickler“, ISBN 978-3-7639-4700-3


Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 08.09.2014
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