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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 16.06.2014:

„Es ist Einiges in Bewegung gekommen“

„Bildung in Deutschland 2014“: Der fünfte nationale Bildungsbericht ist erschienen
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Prof. Dr. Marcus Hasselhorn

Am 13. Juni 2014 ist in Berlin der fünfte nationale Bildungsbericht erschienen. Der von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bei namhaften Wissenschaftlern in Auftrag gegebene Bericht legt eine umfassende Darstellung der gegenwärtigen Lage des deutschen Bildungswesens vor und stellt das Thema „Menschen mit Behinderungen“ in den Fokus. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), der gemeinsam mit seinem Team für die Leitung und Koordinierung des nationalen Bildungsberichts verantwortlich war.


Online-Redaktion: Auf welchen Indikatoren beruhen die Bildungsberichte?

Hasselhorn: Auf Indikatoren, die es ermöglichen, aus den Datenquellen, die wir verwenden, systematisiert Bildungsvoraussetzungen, -wege, -ergebnisse und -erträge so zu dokumentieren, dass sie auf Individualebene, also für den Einzelnen in seinem Bildungsverlauf, charakteristisch werden und gleichzeitig den Möglichkeiten und Qualitätsmerkmalen der Bildungsinstitutionen gegenübergestellt werden können.
Wir versuchen in den Bildungsberichten so Antworten auf Fragen zu geben, wie z.B. welche personellen und materiellen Ressourcen für Bildungsprozesse bereitgestellt werden, welche formalen und non-formalen Angebote es gibt, welche Bildungswege sich für die einzelnen Menschen eröffnen, von wem welche Einrichtungen wie lange besucht werden, welche Abschlüsse es gibt und welche Kompetenzen Menschen dabei erwerben.

Online-Redaktion: Auf welche Daten stützen sich die Berichte?

Hasselhorn: Es dürfen nur Daten verwendet werden, die repräsentative Aussagen über Deutschland gestatten, deshalb kommen viele Forschungsdaten, die etwa in Teilstichproben in kleinen Regionen erhoben wurden, nicht in Frage. Abgestimmt mit Bund und KMK verwenden wir Daten aus amtlichen Statistiken und aus abgesprochenen sozialwissenschaftlichen Datenquellen, insbesondere den Mikrozensus, die offiziellen Ergebnisse der PISA-Untersuchung und erstmals die Daten des NEPS, des Nationalen Bildungspanels.

Online-Redaktion: Welche positiven Veränderungen haben sich im Bildungswesen seit dem ersten Bericht vollzogen?

Hasselhorn: Wir können im Bildungsbericht konstatieren, dass in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Reformen begonnen wurden und Einiges in Bewegung gekommen ist. Der erste Punkt ist der Ausbau der Angebote über fast alle Bildungsbereiche hinweg, vor allen Dingen aber der für die unter 3-Jährigen. Das hat sicherlich mit dem Rechtsanspruch auf eine Bildungsbeteiligung der unter 3-Jährigen zu tun, der 2013 in Kraft getreten ist, aber allen Unkenrufen zum Trotz ist das Angebot bisher bedarfsdeckend gelungen, und die befürchteten negativen Auswirkungen auf die Qualifikation des pädagogischen Personals sind nicht eingetreten. Das ist eine erste positive Veränderung.

Zweitens hält im Bereich Schule der Zustrom zum Gymnasium weiter an. Eine Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der sozialen Disparitäten sind teilweise erfolgreich angestoßen worden. So können wir nach Ende des Sekundarbereichs I ein geringeres Ausmaß an sozialen Disparitäten vor allen Dingen in der Bildungsbeteiligung erkennen. Auch sozial schwächere Schülerinnen und Schüler ergreifen heute vermehrt die Chance, die Sekundarstufe II zu besuchen.

Eine dritte positive Veränderung ist ein Zuwachs der Kompetenzen der 15-Jährigen im internationalen Vergleich, wie in der letzten PISA-Studie festgestellt wurde. Dies ist erstmals besonders durch eine Steigerung der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern erfolgt, d.h. die Schere zwischen den leistungsschwachen und den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern ist etwas geringer geworden.

Auch erreichen über 50 Prozent eines Jahrgangs eine Studienberechtigung. Damit sind die Maßstäbe, die wir uns in Deutschland im europäischen Vergleich gesetzt hatten, erfüllt. Allgemein gilt die Aussage, dass der Bildungsstand der Bevölkerung sich weiter erhöht und sich der Trend zu höheren Abschlüssen weiter fortsetzt.

Online-Redaktion: Wo sind Problemlagen zu verzeichnen? Vor welchen Aufgaben und Herausforderungen steht die Bildungspolitik?

Hasselhorn: Ich möchte vier besonders markante nennen. Das erste Problem ist, dass der U3-Ausbau zwar positiv verlaufen ist, aber man jetzt vor der Herausforderung steht, Qualitätsmerkmale für die Bildung von unter 3-Jährigen definieren zu müssen. Auch ist das Personal zwar gut ausgebildet, aber für über 3-Jährige. Qualitätsentwicklung und die Entwicklung von Qualitätsstandards für den U3-Bereich sind Aufgaben, die jetzt in Angriff genommen werden müssen.

Ein zweites Feld ist der Bereich der Ganztagsangebote. Es bieten zwar mehr als 50 Prozent der deutschen Schulen Ganztagsangebote an, die von einem Drittel der Schülerschaft in Deutschland genutzt werden, allerdings dominiert das Modell der offenen Ganztagsangebote mit freiwilliger Schülerteilnahme. Damit sind die pädagogischen Möglichkeiten einer flexiblen Zeitorganisation über den ganzen Schultag bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass es unter verbindlichen Ganztagsangeboten eher gelingt, soziale Disparitäten, eins der Ziele der Ganztagsbeschulung, abzubauen.

Ein weiteres Problemfeld ist die Situation in der Berufsausbildung. Über eine Viertelmillion junger Menschen befinden sich im Übergangssystem. Das Übergangssystem garantiert aber keinen gelungenen Übergang in ein berufliches Bildungssystem, sondern macht nur Hoffnungen darauf. Die Daten zeigen, dass der Prozentsatz an Bildungsverlierern nicht kleiner geworden ist, auch wenn in der schulischen Bildung positive Tendenzen zu verzeichnen sind. In der beruflichen Bildung verschärft sich die Diskrepanz zwischen den Erfolgreichen im Bildungswesen und den nicht Erfolgreichen.
Auch beim Übergang zur Hochschule besteht dieser Selektionsfilter. Wenn sich aber das Bildungsniveau insgesamt verschiebt und die Bildungsverlierer bleiben, wird der Abstand größer.

Online-Redaktion:
Dieses Jahr steht das Thema „Menschen mit Behinderungen“ im Fokus der Bildungsberichterstattung. Zu welchen Ergebnissen kommt der Bericht?

Hasselhorn:
Von Anfang an standen wir hier vor dem Dilemma, dass es einerseits darum geht, aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen deren Bildungsmöglichkeiten zu beschreiben und andererseits zu erörtern, wie die Institutionen und die Bildungspolitik des Bundes und der Länder sich dem so genannten Inklusionsgebot unterwerfen. Wir konnten daher kaum trennen zwischen den Themen „Menschen mit Behinderungen“ und „Inklusion“. Wir haben vor allem feststellen müssen, dass wir eine enorme Verschiedenartigkeit der begrifflichen Zuordnungen, institutionellen Bedingungen und professionellen Selbstverständnisse bis hin zu unterschiedlichen Rechtsgrundlagen für das Inkludieren von Menschen mit Behinderungen in der Bildung haben. Das haben wir in diesem Bericht erstmals herausgearbeitet.

Ein zweiter Punkt sind die unterschiedlichen Definitionen von Menschen mit Behinderungen in den verschiedenen Etappen des individuellen Bildungsverlaufs. Diese führen dazu, dass sehr unterschiedliche Diagnoseverfahren im Primar- und Sekundarbereich, in der Berufsbildung und in der Universität eingesetzt werden. Dadurch fällt es sehr schwer, die Bildungsverläufe von Menschen mit Behinderung überhaupt zu rekonstruieren.

Auf der anderen Seite trägt die Selbstverpflichtung von Bund und Ländern zur Inklusion Früchte, immer mehr Kinder und Jugendliche mit Behinderung besuchen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung Kindertageseinrichtungen und Schulen. Allerdings sieht man, dass das im frühkindlichen Bereich besser gelingt, auch im Primarbereich werden Zweidrittel der Kinder gemeinsam unterrichtet. Im Sekundarbereich I sind es nur noch 23 Prozent und im beruflichen Bildungsbereich bedeutend weniger.

Dann muss man feststellen, dass allgemeine Bildungsabschlüsse für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur eingeschränkt erreichbar sind. Auch bei den Ausbildungsgängen im beruflichen Bereich gibt es immer noch rund 10 000 Jugendliche, die nicht in Regelausbildungen ausgebildet werden, sondern in Sonderausbildungsgängen, die vergleichbar sind mit den Sonderschulen im Schulbereich. Bei den Hochschulen lässt sich das schwieriger identifizieren, weil Hochschulen den Begriff der Behinderung nicht kennen. An den Hochschulen werden nur Menschen gebildet, die zielgleich sind. Insofern ist das eine andere Situation als in jedem anderen Bildungsbereich.

Bei der Qualifikation besteht ein großes Problem darin, dass alle Personen, die in die Bildung von Menschen mit Behinderungen eingebunden sind, einen enormen Weiter- und Ausbildungsbedarf haben. Hier ist in den letzten Jahren zwar viel geschehen, aber das Erreichte liegt weit hinter dem erklärten Bedarf zurück.

Online-Redaktion:
Wie kommen die Schulen mit dem Ausbau der Inklusion voran? Wo liegen Defizite?

Hasselhorn: Unabhängig von den unterschiedlichen Konzepten und dem Stand der Umsetzung in den einzelnen Bundesländern ist mein persönlicher Eindruck, dass das traditionell gewachsene deutsche Schulsystem fundamental anders agiert als ein inklusives System. Der typisch deutsche Schullehrer jeder Schulform ist darauf sozialisiert worden, differenziert auszubilden, d.h. er selektiert auch Personen, um sie in den ihren Möglichkeiten besonders angemessenen Kontexten optimal fördern zu können. Das führt zu dem Prinzip von Differenzierung in der Regelschule bis hin zur Ausdifferenzierung, also dem Weiterleiten von einigen Schülern auf Sonderschulen.

Die Schulen haben sich zwar nach bestimmten schulbehördlichen Verordnungen umorientiert, Inklusion zu realisieren, aber die Grunddiskussion, wie Inklusion mit dem Selbstverständnis unseres schulischen Systems vereinbar ist, ist nicht geführt worden. Und die wird uns vor Zerreißproben bringen. Es gibt schon erste Klagen von Personen, deren Kinder beispielsweise eine Realschulempfehlung haben und die jetzt sagen, auf dem Gymnasium XY wurde im Zuge der Inklusion ein Kind mit Down-Syndrom inkludiert, ich klage jetzt, dass mein Realschulkind auch auf dieses Gymnasium inkludiert wird. Daran sieht man besonders deutlich, wie die Traditionen unseres nach bestimmten Zielen und Abschlüssen ausdifferenzierenden Systems und Inklusion an ihre Grenzen stoßen.

Online-Redaktion: Wie kann Inklusion gelingen mit dem Schulsystem, das wir haben?

Hasselhorn:
Wir werden vor allem eine Diskussion führen müssen, in der wir genau festlegen, welche Formen von Inklusion in welchen Bildungseinrichtungen möglich sind. Aber eine völlige Inklusion wird nicht durchführbar sein. Es macht keinen Sinn, das bisherige Bildungssystem sich selbst kaputt machen zu lassen, indem man den ideologischen Anspruch verallgemeinert, auf jeder Schulform jeden inkludieren zu können. Das heißt auch nicht, dass wir keine Sonderschulen mehr brauchen. Wenn man Inklusion in dem Dilemma sieht, das Individuum bestmöglich zu bilden und zu fördern, dann wird man um Sonderformen in allen Bildungsetappen nicht herum kommen. Nur darf das nicht – wie derzeit bei uns – sechs bis sieben Prozent eines Jahrgangs betreffen. Der Prozentsatz wird deutlich heruntergehen können. Die Erfahrungen in England zeigen, dass es vermutlich reicht, zwei Prozent eines Jahrgangs über längere Phasen sonderzubeschulen.

Die Länder müssen sich in Zukunft mehr abstimmen, als sie es bisher getan haben. Und sie müssen nicht nur die Schulsysteme abstimmen, sondern auch die Sozialsysteme, weil aus diesen die Sozialrechtsgrundlagen für einzelne Menschen mit Behinderung entstehen und um eventuell auch aus dem Sozialsystem zustehende Ressourcen in die Verbesserung des institutionellen Bildungsangebots zu integrieren. Ein wichtiger Punkt ist die Ausbildung des Personals. Wir haben sehr gutes Personal, allerdings sozialisiert in einem auf Differenzierung und nicht auf Inklusion ausgerichteten System. Ohne Personal, das Inklusion nicht nur kognitiv verarbeitet oder politisch für richtig hält, sondern auch die notwendige Expertise zur Differenzierung innerhalb von Gruppen mit sehr heterogenen Lernvoraussetzungen aufbaut, geht es nicht.



Prof. Dr. Marcus Hasselhorn ist Geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Direktor der Institutsabteilung „Bildung und Entwicklung" sowie „Scientific Coordinator“ und Sprecher des vom DIPF koordinierten Forschungszentrums IDeA (Center for Research on Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk). 2007 wurde er auf die Professur für „Psychologie mit dem Schwerpunkt Bildung und Entwicklung“ am DIPF und an der Goethe-Universität Frankfurt berufen. Zuvor war der Entwicklungspsychologe unter anderem Professor in Göttingen und davor in Dresden. Prof. Hasselhorn ist heute über seine Tätigkeiten am DIPF hinaus unter anderem Geschäftsführender Herausgeber der Fachzeitschrift „Frühe Bildung“.

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 16.06.2014
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