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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.09.2006:

In jedem Kind steckt ein Forscher

Naturwissenschaftliche Experimente im Kindergarten

Leon reicht Marie das Glas. Auf dem Boden des Glases befindet sich Speiseöl. Marie gibt Leitungswasser hinzu, bis das Glas halb gefüllt ist. Nachdem beide Flüssigkeiten ihren Platz im Glas gefunden haben, lässt Leon vorsichtig aus einer Tintenpatrone drei bis vier Tropfen Tinte in das Glas tropfen. Beide warten gespannt darauf, was passiert.

Kinder erforschen die Natur
Kinder sind von Natur aus neugierig. Mit "Warum"-Fragen wollen sie die Welt entdecken und erklärt bekommen. Ganz besonders spannend finden sie die Phänomene der Natur: Wieso geht Eis auf Wasser nicht unter? Wie entsteht ein Regenbogen? Warum regnet es? Warum löscht Wasser Feuer? Nicht immer bekommen sie Antworten auf ihre Fragen, stattdessen oft ein "dafür bist du noch zu klein" zu hören. Naturwissenschaftliche Bildung ist im Kindergarten nicht vorgesehen, obwohl "es keine Zeit im späteren Leben gibt, die noch einmal so gekennzeichnet ist von naturwissenschaftlichem Interesse wie gerade das Alter zwischen vier und sieben", erklärt die Professorin für Chemiedidaktik an der Universität Bielefeld, Gisela Lück, leidenschaftlich.

Auch in der Schule führen Experimente aus der unbelebten Natur im Vergleich zur Biologie ein Schattendasein, bedauert sie. Dabei bilden sie doch die Basis für Vorgänge in der belebten Natur. Chemie und Physik stehen erst ab dem 7. Schuljahr auf dem Stundenplan. Dann, wenn die meisten Jugendlichen in der Pubertät sind und sich wenig für Naturwissenschaften begeistern. Entsprechend wenige Schülerinnen und Schüler belegen später die entsprechenden Leistungskurse, und auch die Zahlen der Studienanfänger in Chemie und Physik gehen kontinuierlich zurück. Kommen Kinder hingegen früh in Kontakt mit naturwissenschaftlichen Experimenten, kann das ihr Interesse langfristig wecken, fand Gisela Lück in einer Befragung von 1300 Chemiestudierenden heraus. Als Studiengrund gaben 22 Prozent von ihnen einen frühen Kontakt mit dem Fach an.

Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
Viele Pädagogen und Wissenschaftler stimmen darin überein, dass schon bei Kindern ab drei bis fünf Jahren die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für einen Zugang zu naturwissenschaftlichen Phänomenen angelegt sind. "Dieses Bestreben der Kinder, ernst genommen zu werden und gleichberechtigt zur Welt zu gehören, bietet ein ideales Zeitfenster für das Lernen", ist sich Gisela Lück sicher. "Wir brauchen den Blick der Kinder nicht auf Naturphänomene lenken. Er ist schon vorhanden. Doch wir müssen ihn bewahren und unterstützen". Dass Kinder in diesem Alter schon komplizierte Phänomene verstehen können, widerspricht der klassischen Entwicklungspsychologie, die von dem Schweizer Biologen und Psychologen Jean Piaget vertreten wird. Seine Theorien haben über Jahrzehnte viele Konzepte der frühkindlichen Bildung bestimmt: Danach beginnen Kinder nach zwei Jahren zwar anschaulich zu denken, können aber noch lange nicht abstrahieren. Reif für physikalische Gesetze seien sie erst in der Sekundarstufe. Prof. Friedrich Wilkening von der Universität Zürich hält dies für eine eklatante Fehlentwicklung, durch die ein Großteil des Wissens- und Erfahrungspotenzials von Kleinkindern ungenutzt bleibe. Und auch andere Wissenschaftler wie Didaktiker aus Münster oder Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung konnten nachweisen, dass Grundschulkinder in der Lage sind, komplizierte Phänomene wie Dichte und Auftrieb oder "Geschwindigkeit = Weg/Zeit" zu verstehen, wenn sie kindgerecht vermittelt werden.

Kinder experimentieren gern
Gisela Lück plädiert dafür, Naturwissenschaften schon in der Vorschule zu verankern und die Beschäftigung mit den Naturphänomenen in der Grundschule fortzuführen, um dem nachweislichen Interesse der Kinder gerecht zu werden. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sie über 5.000 Kindergartenkinder einfache Experimente durchführen lassen und herausgefunden, dass 70 Prozent der Kinder die Experimente spannender als attraktive Alternativangebote (schwimmen oder spielen) fanden. Für das große Interesse der Kinder spricht ihrer Meinung auch, dass sich noch ein halbes Jahr später über die Hälfte der Kinder detailgenau an die Versuche erinnern konnte, die meisten sogar noch an die Deutung des Experiments. "Kinder sind die geborenen Wissenschaftler, unvoreingenommen, experimentierfreudig, wollen alles wissen. Man würde kreatives Potenzial vergeuden, wenn man sie nicht schon mit den Naturwissenschaften konfrontieren würde, selbstverständlich, indem man sie eigenhändig experimentieren lässt", so sieht das auch Prof. Dr. Volker Wiskamp aus dem Fachbereich Chemie- und Biotechnologie von der Uni Darmstadt. Er setzt sich ebenfalls dafür ein, mit naturwissenschaftlichen Experimenten schon im Kindergarten zu beginnen und hat selber Kurse an Kindergärten durchgeführt und Fortbildungen für Erzieherinnen und Erzieher angeboten.

Die Anschaulichkeit der Experimente ist wichtig
Im Kindergarten ist nur die Art der Wissensvermittlung wichtig, weiß Gisela Lück, die mehrere Handbücher für Eltern und Erzieherinnen und Erzieher verfasst hat. Die Experimente sollen anschaulich sein, und Erwachsene sollten unbedingt darauf achten, dass die Versuche einen Alltagsbezug haben und von den Kindern alleine erfolgreich durchgeführt werden können, empfiehlt sie, so sei der Lernerfolg am größten. Und dann können Experimente auch von vierjährigen Kindern verstanden werden. So wie die Reise des Tintentropfens durch zwei ganz besondere Flüssigkeiten. Leon und Marie konnten während des Experiments beobachten, dass es Flüssigkeiten gibt, die sich nicht mischen: Öl und Wasser. Das Wasser setzt sich im unteren Teil des Glases ab, das Öl schwimmt oben. Die Tintentropfen sinken in ihrer kugeligen Form unverändert durch das Öl bis sie den Boden des Glases erreichen und lösen sich dann schlierenförmig im Wasser auf. "Gleiches löst sich in Gleichem", hat Marie gelernt. Und weil Öl und Wasser "ungleich" sind, also unterschiedliche Strukturen haben, vermischen sie sich nicht.

Naturwissenschaften halten Einzug im Kindergarten
Erstmalig wurde im neuen bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan für den Elementarbereich (d.h. für Kinder von null bis sechs Jahren) der Ausbildung von Kindern zwischen drei und sechs Jahren in den Bereichen Naturwissenschaft und Technik ein eigenes Kapitel gewidmet. Dieses soll in den Kindergärten Bayerns - und darüber hinaus - Einzug halten. Dr. Heike Schettler und Sonja Stuchtey von Science-Lab haben intensiv für das Institut für Frühpädagogik an der Erstellung des neuen Bildungs- und Erziehungsplans mitgewirkt. Science-Lab erschließt Kindern in Kursen altersgerecht und spielerisch die Welt von Wissenschaft und Technik und bietet Fortbildungen für Kursleiter, Erzieher und Grundschullehrer an. "Es geht nicht darum, abfragbares Wissen zu vermitteln oder Lerninhalte der Schule vorzuziehen, sondern zu fragen und nach Antworten zu suchen. Das ist Forschen. So lernt man Lernen", sind sie sicher.

Mit gut begleiteten Experimenten im Kindergarten können Kinder ihren Forscherdrang am besten stillen. Denn schon Vierjährige verstehen abstrakte kausale Zusammenhänge, wenn sie kindgerecht vermittelt werden. Zahlreiche Versuchsreihen von Gisela Lück, Volker Wiskamp und anderen Pädagogen und Wissenschaftlern belegen dieses inzwischen. Experimentieren veranlasst die Kinder, genau zu beobachten, selbst nach Antworten und Lösungen zu suchen und eigene Schlüsse zu ziehen. Und das sind Fähigkeiten, von denen sie ihr ganzes Leben profitieren werden.

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.09.2006
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