Suche

Gebärdensprache DGS-Button Leichte Sprache LS-Button
Erweiterte Suche

Ariadne Pfad:

Inhalt

Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 28.08.2006:

Kinderlobbyisten und Multispezialisten

Zum Studiengang "Angewandte Kindheitswissenschaften" an der FH Magdeburg-Stendal
Das Bild zum Artikel
Portrait eines Jungen, Quelle: Photocase

Kindheit wird wieder ernst genommen. Gut, denn es ist höchste Zeit die Lobby der Kinder in Deutschland zu stärken. Ein Zeichen dafür ist der sechssemestrige Bachelor-Studiengang "Angewandte Kindheitswissenschaften", der ab dem Wintersemester 2005/2006 an der Fachhochschule Stendal angeboten wird. Die Studenten und Studentinnen sollen hier für ihr späteres Berufsleben befähigt werden, mit Kindern und ihren Familien zu arbeiten. Sie können im direkten Kontakt mit Kindern und Familien tätig sein oder auch in einschlägigen Trägereinrichtungen des Bildungs-, Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitswesens. Dazu gehört es auch, neue Wege in der Arbeit sowohl auf allen politischen Ebenen als auch in Institutionen für Kinderbelange sowie bei Trägern und Nichtregierungs-Organisationen zu finden. Die Absolventen tragen später den Namen "Kindheitswirt" und studieren die Bedürfnisse und Belange von Kindern auf einer breiten wissenschaftlichen Grundlage, um diese in schon bestehende Teams hineinzutragen und auch gegenüber Instanzen zu vertreten.

Ein Hit schon vor dem ersten Semester
"Schon vor dem Start zu dem Wintersemester 2005/2006 war das Fach mit mindestens drei vorgeschriebenen Praktika ein Hit", so die dpa-Journalistin Sabine Heimgärtner. Rund 320 Bewerbungen aus dem ganzen Bundesgebiet gingen ein, und nur 30 Studienplätze waren zu vergeben. Die Studierenden vertieften sich neben Vorlesungen zu Klassikern wie Soziologie, Geschichte und Anthropologie der Kindheit auch in spezielle Themen wie "Kinderleben und Architektur" oder "Interpretation von Kinderzeichnungen". Ein Fachbereich, in dem die Zusammenarbeit in einer überschaubaren Gruppe möglich ist und alle das Ziel "zum Wohle des Kindes" verfolgen. Die Professorin Beatrice Hungerland hierzu: "Was wir heute überall dort brauchen, wo es um Kinder geht, sind Fachleute, die nicht in ihrem eigenen Sumpf schmoren, sondern Netzwerke bauen können, vor allem zu anderen Berufsgruppen."
 
Netzwerker am Werk
Warum diese Netzwerker so wichtig sind? Ein Blick in die Praxis verrät es: Ein dickes Kind ist nicht nur ein Fall für den Arzt oder das Gesundheitsamt, sondern auch für Psychologen, Soziologen, Familientherapeuten und Berufsberater. Hier müssen Fragen beantwortet werden wie: Woher kommt das Übergewicht? Wie könnten sich die zusätzlichen Pfunde zukünftig auswirken, etwa auf die Berufsaussichten der Jugendlichen oder seine soziale Integration? Aus diesem Grund nehmen Fächer wie Psychologie, Soziologie und Gesundheitswissenschaften bei den Kindheitswissenschaftlern eine wichtige Rolle ein. In diesem Querschnittsstudiengang hat die Pädagogik nur einen Anteil von 25 Prozent. Hertha Schnurrer hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin den Studiengang mitgeplant. Sie zeigt an Beispielen des Alltags die Notwendigkeit des interdisziplinär angelegten Studiengangs auf: "Warum sind Pausenhöfe meistens so scheußlich gestaltet? Man hat den Eindruck, da passen nur Autos drauf." Oder auch die Frage, warum der Schulunterricht im 45-Minuten-Takt verläuft und ob das überhaupt kindgerecht ist. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist Allroundwissen von Nöten. Die Dozenten in Stendal verweisen dabei gerne auf die Ergebnisse der PISA-Studien, in denen die skandinavischen Länder weitaus besser abschneiden und in denen - wie auch im angelsächsischen Raum - seit den 90er Jahren das Studium der "Childhood Studies" gelehrt wird.

Größter Risikofaktor: soziale Isolation
Mit welchen Themen Kindheitswissenschaftler konfrontiert werden, wurde auf der ersten Sitzung des Sozialbeirates nach erfolgreichem Abschluss des ersten Semesters deutlich.
Professorin Beatrice Hungerland und Studentensprecherin Susanne Borkowski, zugleich Leiterin der Evangelischen Kita in Stendal, zogen eine erfreuliche Bilanz: Sie sprachen über ein inhaltlich anspruchsvolles und zugleich praktisch orientiertes erstes Semester. Während des Anfangsemesters seien Grundlagen zur Familienpolitik, Kindheitssoziologie, Psychologie, Pädagogik und zur Kindergesundheit gelegt wurden. Raimund Geene, Professor für "Kindliche Entwicklung und Gesundheit", sprach über die kontroversen Diskussionen zu Kinderkrankheiten und Pflichtuntersuchungen. So nähmen zwar Allergien und Übergewicht bei Kindern zu, die größte Bedrohung für die gesunde kindliche Entwicklung liege jedoch in der sozialen Isolation, besonders infolge von Armut.

So wächst in Halle/Saale mehr als jedes dritte Kind in Armut auf - Hartz IV hat nach Auffassung von Experten, dieses Problem verschärft. Dazu meinte Geene, wenn Kinder bereits mit Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern aufwüchsen, hätten sie auch später kaum Chancen auf Integration. Zunehmend müssen Institutionen wie die Kindertagesstätten und Schulen, aber auch Stadtteile Funktionen des Elternhauses übernehmen. Sie haben deshalb die Aufgabe, den Kindern die Erfahrung zu vermitteln, ihr Leben selbstständig und positiv gestalten zu können.

Hierzu gibt es Projekte, in denen die Kinder, wie in Berlin als Kinderdetektive Probleme und Potenziale in ihrem Lebensumfeld finden und diese an die Lokalpolitiker herantragen. Auch hier sind unterschiedlichste Institutionen und Fachleute im Spiel wie Kitas, Schulen, Krankenkassen, Sozialträger und die Vertreterinnen und Vertreter der Polizei sowie der Gesundheits- und Sozialverwaltung. Laut Geene, zeigen sich erste Erfolge dadurch, dass Betroffene und Entscheidende miteinander sprechen. So werde Angst, Depression und gewalttätigem Frustabbau vorgebeugt. Auch in diesem Falle könnten die "Kiwi"-Absolventen eine Vermittlerposition einnehmen.

"Es gibt eklatante Defizite in der Ausbildung der Erzieherinnen"
Neben dem Vermitteln zwischen Institutionen und Fachleuten gehört es auch zu den Aufgaben zu überprüfen, wie es um die Ausbildung pädagogischer Berufe in Deutschland bestellt ist. Im Zusammenhang des Falles einer Stendaler Kita , in der ein dreijähriges Kind von der Erzieherin mit kaltem Wasser abgeduscht wurde, weil es die Windel eingenässt hatte, sagte der Kindheitswissenschaftler Raimund Geene "Viele Erzieherinnen sind im Umgang mit ihrer pädagogischen Verantwortung relativ überfordert." So komme alleine das kalte Abduschen einer Körperverletzung wie etwa dem Schlagen gleich und sei extrem belastend für das Kind, meint Geene. "Wenn dies ein Einzelfall ist, wäre das fürs Kind kein Problem", so Geene. "Wenn es aber symptomatisch ist und damit nur die Spitze des Eisbergs darstellt, sollten die Alarmglocken läuten!" Seiner Meinung nach, könnte die Tatsache, dass der Fall öffentlich geworden ist darauf hindeuten, dass es kein einmaliger Ausrutscher sei und es "eklatante Ausbildungsdefizite" bei Erzieherinnen gäbe. Die Elementarpädagogik sei für den Kita-Bereich zu gering entwickelt. Um solchen Situationen in Zukunft vorzubeugen, werde im Studiengang der Angewandten Kindheitswissenschaften darüber nachgedacht, wie die Elementarpädagogik wieder in der Ausbildung der Kita-Erzieherinnen etabliert werden könne. Das Augenmerk auf das Kindeswohl gelegt werden.

Kindheit erleben Kinder heute unter neuen Bedingungen wie Armut, veränderten Familienstrukturen, neuen Gesundheitsgefahren für Körper und Psyche. Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Bekanntermaßen besteht zwischen Gesundheit, Bildungsstandard und Kinderarmut ein enger Zusammenhang. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass dieser Studiengang im Osten Deutschlands ins Leben gerufen wurde, denn dort ist die Armut besonders groß. Und was die skandinavischen Länder, die zudem schulische Leistung mit kindgerechtem Lernen verbinden, Deutschland schon vor vielen Jahren mit einem gleichnamigen Studiengang vorgemacht haben, sollte ein weiterer Ansporn sein, das Thema Kindheit in Deutschland neu zu überdenken. Eine Anwaltschaft für das Kind, die sich jenseits von leistungsorientiertem Denken definiert, ist eine gute und wichtige Ergänzung  der unmittelbaren pädagogischen Praxis. Kurz - die Begründung der Notwendigkeit sowie Konzept und Anliegen klingen überzeugend - willkommen neuer Studiengang der "Angewandten Kindheitswissenschaften"!

Autor(in): Katja Haug
Kontakt zur Redaktion
Datum: 28.08.2006
© Innovationsportal

Ihr Kommentar zu diesem Beitrag. Dieser Beitrag wurde bisher nicht kommentiert.

 Weitere Beiträge nach Innovationsgebieten (Archiv).

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion von Bildung + Innovation erlaubt.

Die Redaktion des Online-Magazins Bildung + Innovation arbeitet journalistisch frei und unabhängig. Die veröffentlichten Beiträge bilden u. a. auch interessante Einzelmeinungen zum Bildungsgeschehen ab; die darin zum Ausdruck gebrachte Meinung entspricht nicht notwendig der Meinung der Redaktion oder des DIPF.

Inhalt auf sozialen Plattformen teilen (nur vorhanden, wenn Javascript eingeschaltet ist)

Teile diese Seite: