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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 06.07.2006:

Klimawandel in der Bildung

Versäumnisse bei der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirken sich auf alle Bildungsbereiche aus

Nach der Föderalismusreform haben die Länder ab 2007 nahezu allein die Hoheit über die Schulen und Hochschulen. Ein gemeinsamer Bildungsbericht für ganz Deutschland soll in dieser Situation Daten liefern, die eine Zustandsbeschreibung des gesamten deutschen Bildungswesens im Kontext des europäischen und internationalen Vergleichs erlauben. Und das, ohne auf eine Gegenüberstellung der miteinander im Wettbewerb stehenden deutschen Länder zu verzichten. 

Internationale Vergleichsuntersuchungen haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass Deutschland in der Bildung nicht überall eine gute Figur macht und dafür liefert auch der soeben erschienene Bildungsbericht weitere Anhaltspunkte. Dies wurde auf der Berliner Tagung zum Bildungsbericht am 4. Juli 2006, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Kultusministerkonferenz veranstaltet wurde, immer wieder hervorgehoben. Der nationale Bildungsbericht soll von nun an alle zwei Jahre erscheinen, der nächste Bericht also 2008. "Bis dahin auf Veränderungen zu hoffen, wäre verfrüht", prognostiziert Kornelia Haugg, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).  

"Der Bericht leistet Pionierarbeit", sagt daher Staatssekretär Michael Thielen, BMBF. Wer in Zukunft über Bildung mitreden wolle, müsse dieses Werk zur Kenntnis nehmen: ein interdisziplinäres Gemeinschaftswerk von Bundesbildungsministerium, der Kultusministerkonferenz und rund 100 Erziehungswissenschaftlern, Soziologen und Statistikern. Diesem Bericht liege eine "neue Steuerungsphilosophie" zu Grunde. Der erste gemeinsame Bildungsbericht von Bund und Ländern sei eine bedeutende Wegmarke auf dem neuen Kurs, der unter dem Etikett "empirischer Wandel" in den neunziger Jahren eingesetzt hat. Um bildungspolitische Entscheidungen stärker empirisch zu fundieren, messen die Länder in festgelegtem Rhythmus, was beim Lehren rauskommt, wenn Lehrer und Hochschullehrer vor Klassen und Seminaren stehen (Output-Orientierung statt Input-Orientierung).  

Vertieft diskutierte die Tagung drei Themenfelder: Erstens theoretische Grundlagen des Bildungsberichts, zweitens Konsequenzen für die Bildungspolitik oder "zentrale handlungsrelevante Befunde" und drittens Verbesserung bei der zukünftigen Bildungsberichterstattung.  

Der rote Faden des Bildungsberichts
Der Leitgedanke beim nationalen Bildungsbericht ist die Betrachtung der Bildung im Lebenslauf, so Eckhard Klieme, einer der Autoren des Berichts vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main. "Bildung im Lebenslauf" beleuchtet die Bildungssituation von der Kindheit bis zum Alter, vom Kindergarten bis zur Weiterbildung im Altenheim.  

Der Bericht soll keine graue Theorie bleiben, sondern ist auf Systemsteuerung angelegt, die auf den Ebenen der Bildungseinrichtungen, Ressourcen (Finanzen), Inhalte (Curricula), Serviceeinrichtungen (Unterstützungssysteme) und der Qualitätssicherung möglich ist. Dabei verweisen die Erziehungswissenschaftler auf besondere Risiken in der Bildungspolitik. Da die größte bundesweite Herausforderung die Integration der zugewanderten Kinder und Jugendlichen ist, wundert es nicht, dass die Problematik des  Migrationshintergrundes auch zum ersten Schwerpunktthema des Bildungsberichts wurde.  

Was sind eigentlich Indikatoren?
Eine tragende Rolle im Konsortium des Bildungsberichts spielen die Statistiker, die die grundlegenden Daten beisteuern. Die Statistiker haben die Aufgabe, "Daten über Massenerscheinungen zu erheben, zu sammeln, aufzubereiten, darzustellen und zu analysieren", sagt Gisela Meister-Scheufelen, Präsidentin des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberg. Dabei beschränken sich die Statistiker nicht bloß aufs Sammeln und Aufbereiten von Zahlen. Es geht um "brauchbare Aussagen", die dadurch zustande kommen, dass statistische Ergebnisse in einen "zeitlichen, regionalen oder sachlichen Zusammenhang" gestellt würden. Insgesamt 22 Datenquellen fließen in die Berechnung der Indikatoren ein, die im Bildungsbericht zur Anwendung kommen.  

"Brauchbare Aussagen" erhoffen sich Statistiker und Erziehungswissenschaftler von sogenannten "Indikatoren", die dem Bildungsbericht zugrunde liegen. Indikatoren oder "Anzeiger" sind empirisch abgesicherte Vergleichsmaßstäbe, die "es ermöglichen, "intransparente Abläufe zu verfolgen, indem sie anzeigen, ob bestimmte Zustände erreicht sind oder bereits verlassen wurden", sagt Gisela Meister-Scheufelen. Die Indikatoren zeigen der Politik an, dass auf einem bestimmten vom Indikator umrissenen Feld, etwa den Kindergärten, Schulen oder Fortbildungseinrichtungen gehandelt werden muss. Gute Zustandsanzeiger müssten aussagekräftig, allgemein akzeptiert und konkret sein. Sie müssen auch "wiederholt berechnet werden können, damit Veränderungen nachvollzogen werden können und der Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen erkennbar wird", so die Landesstatistikerin.   

"Kinder begegnen in der Kita der Großelterngeneration"
Viele Kinder aus zugewanderten Familien beherrschen die deutsche Sprache nicht. Deswegen fordern manche Politiker die Kindergartenpflicht, damit diese Kinder Deutsch sprechen lernen und so von Anfang an den Anschluss an die erste Klasse schaffen. Nehmen die Eltern mit Migrationshintergrund tatsächlich Kindergärten für ihren Nachwuchs weniger in Anspruch? Anhand des Indikators für die "Inanspruchnahme von Tageseinrichtungen vor der Schule" raten Erziehungswissenschaftler wie Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut von der Kindergartenpflicht ab, da die Befunde für das Jahr 2004 zeigen, dass nur ein geringer Unterschied zwischen ausländischen und einheimischen Kindern beim Kindergartenbesuch der Vier- bis Sechsjährigen vorliege. "Handlungsbedarf zeigt sich bei Drei- bis Vierjährigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit".   

Des politischen Eingriffs bedarf auch die Altersstruktur von Erzieherinnen und Erziehern. Der Anteil älterer Fachkräfte in den Kitas ist nach 1990 stark gestiegen, im Osten Deutschlands mehr als im Westen. "Kinder begegnen in der Kita eher der Großelterngeneration", so Thomas Rauschenbach. Es bestehe also in einigen Jahren ein "nicht unerheblicher Ersatzbedarf".    

Viele Abstiege von Jugendlichen aus zugewanderten Familien
Die Aussagekraft eines Indikators ist der von vereinzelten Tabellen überlegen und seien sie auch randvoll mit Daten gespickt. Aus den Tabellen der Kultusministerien ist etwa ersichtlich, wie viele Schülerinnen und Schüler in die Hauptschule, Realschule oder Gymnasium gehen oder wie viele die Klasse wiederholen. Dabei fehlt der Bezug auf die Tabellen anderer Länder. Und über die Chancen oder Risiken in eine andere Schulart "aufzusteigen" oder "abzusteigen", sagen die Tabellen in den Bundesländern auch nicht viel aus. Der Indikator für Aufwärtsbewegung und Abwärtsbewegung in den Jahrgangsstufen sieben bis neun in West- und Ostdeutschland (Schuljahr 2004/2005) zeigt hingegen an, wie groß der Unterschied zwischen beiden Regionen ist. So überwögen im Westen die "Abstiege" deutlich, während im Osten fast ein Drittel der Schulartwechsel "Aufstiege" seien, so Gisela Meister-Scheufelen.  

Bei insgesamt 80.000 Schulartwechseln in den Stufen sieben bis neun habe es nur 20 Prozent Aufstiege gegeben, aber 60 Prozent Abstiege. Dieser Befund werfe ein deutliches Licht auf die Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems nach oben, betont Hermann Avenarius, Sprecher des Konsortiums und Schulrechtsexperte vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Kinder von Eltern höherer sozialer Schichten hätten eine viermal so große Chance auf das Gymnasium überwiesen zu werden wie Kinder von Facharbeitern. Trotz des gegliederten Schulsystems habe Deutschland eine im internationalen Vergleich hohe Anzahl von Klassenwiederholern. 

Klimawandel in der Berufsausbildung
"Der Übergang von der Schule zur beruflichen Ausbildung stellt in Deutschland ein riesiges Problem dar", sagt Martin Baethge, Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI) an der Universität Göttingen. Allerdings stünde nicht nur in Deutschland, sondern alle modernen Gesellschaften hier vor großen Schwierigkeiten. Das Berufsbildungssystem in Deutschland setzt sich aus dualen Ausbildungsgängen (betriebliche und schulische Ausbildung), einem Berufsschulsystem in Vollzeit und einem "Übergangssystem", das vom Qualifikationsniveau her unterhalb der klassischen beiden anderen Formen angesiedelt ist, zusammen. Rund 500.000 Jugendliche befänden sich im Übergangssystem, das Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm auf der Tagung bitter als "Untergangssystem" bezeichnete. Berufsvorbereitende Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit gehören zum Übergangssystem.  

Die Berechnung des Indikators  der Neuzugänge in der Berufsausbildung im Zeitraum von 1995 bis 2004 bringt eine Art Klimawandel in der Berufsausbildung ans Licht. Das bewährte duale System schmilzt danach ab wie die Eisberge an den Erdpolen. Zunehmend kommen hier nur noch Jugendliche mit höherer Schulausbildung unter. "Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben sowohl im dualen als auch im vollzeitschulischen Ausbildungssystem deutlich geringere Ausbildungschancen als Absolventen mit Mittlerem Abschluss oder Hochschulreife", so der Bildungsbericht. Die Folge: Untere Schulabschlüsse werden entwertet. Im Zentrum der Krise stehen nach Martin Baethge Jugendliche mit Migrationshintergrund. So sei der Anteil von ausländischen Auszubildenden  in Westdeutschland von rund neun Prozent im Jahr 1993 auf knapp sechs Prozent im Jahre 2003 gesunken.  

"Zukünftige Gestalt des Hochschulsystems nur in Umrissen zu erkennen"
Die Hochschullandschaft erinnert im Zuge der durch die Bologna-Reform eingeleiteten Umwälzungen an eine Baustelle. Bis 2010 sollen alle Studiengänge in das in angelsächsischen Ländern vertraute zweistufige Bachelor- und Mastersystem umgestellt sein. Die zukünftige Gestalt des Hochschulsystems in Deutschland sei gegenwärtig nur in Umrissen zu erkennen, heißt es im Bildungsbericht. Insgesamt sei die Studierbereitschaft in Deutschland langfristig gesehen deutlich zurückgegangen. Ein wichtiger Indikator für den Zustand der Hochschule ist die Übergangsquote. Erfasst werden mit der Übergangsquote alle Studienberechtigten, die die Schule verlassen.  

Die KMK geht bei ihrer Studienanfängerprognose von einer Übergangsquote zwischen 75 und 85 Prozent aus. Andrä Wolter vom Hochschulinformationszentrum (HIS) dämpft die Erwartungen. Man wisse noch nicht, wie sich die Bologna-Reformen und die Studiengebühren auf die Übergangsquote auswirkten. Und viele Studienberechtigte drängt es überdies in die Berufsausbildung, wo sie als höher Qualifizierte wiederum die Jugendlichen mit mittlerer Schulbildung aus dem dualen System verdrängen.  

Bericht bildet nicht die ganze Bildung ab
Was die Schulen anbelangt, so sieht die KMK den Bildungsbericht als abschließenden Teil einer Gesamtstrategie der Bildungsüberwachung (Bildungsmonitoring) an. Die Vier-Punktestrategie der KMK sieht erstens regelmäßige Teilnahme an internationalen Schülervergleichsstudien (IGLU, PISA) vor. Zweitens sollen regelmäßige Tests ermitteln, ob die durch die Bildungsstandards festgelegten Kompetenzen in Kernfächern erreicht werden. Drittens werden Vergleichsarbeiten institutionalisiert, um die Leistungsfähigkeit einzelner Schulen zu ermitteln. Und viertens soll der nationale Bildungsbericht Indikatoren für die schulpolitische Steuerung bereitstellen.  

Kreative Fächer wie Kunst und Musik, Religion und Philosophie fallen durch die Maschen des Überwachungssystems. Selbst alle Vergleichsstudien und der Bildungsbericht zusammengenommen bildeten die Bildung nicht komplett ab, sagt Josef Erhard, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Grassiert in Deutschland angesichts der vielen Vergleiche die Testsucht und zugleich der Testdruck? "Wir wollen kein teaching to the test", wiegelt Josef Erhard ab. Die Länder, die die Ergebnisse des Bildungsberichts eingehend studierten, hätten noch ausreichend Zeit zur Weiterentwicklung der Schulen.   

Auch der Bildungsbericht wird weiterentwickelt. Er wird vermutlich erweitert mit Daten über Privatschulen, Austauschprogramme, Schulen des Gesundheitswesens, ganztägige Bildung und Informationen über die Bildungsfinanzierung. Es gibt viel zu tun auf den Meßstationen des Klimawandels in der Bildung.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 06.07.2006
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