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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 25.08.2005:

Selbstständig im Dickicht der Region

Zwei Jahre später: Das Mammutprojekt "Selbstständige Schule in Nordrhein-Westfalen" im Zuge der Neuausrichtung
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Quelle: Schulleiterin Anni Schulz-Krause vom Schillergymnasium in Köln

Nicht kleckern, sondern klotzen – was die Größe des Modellversuchs selbstständiger Schulen im bevölkerungsreichsten Bundesland anbelangt, gibt es kaum Vergleichbares in Deutschland. Schon vor zwei Jahren zählte das Land 237 Schulen aller Schulformen, die mehr Freiräume nutzen wollten, um vor allem den Unterricht zu verbessern. Nun sind 41 Schulen dazugekommen und der Schulversuch kommt auf insgesamt 278 Schulen in 19 Regionen. Um dieses Projekt zu stemmen, verteilen das Ministerium für Schule und Weiterbildung und sein Projektpartner - die Bertelsmann Stiftung - die neue Verantwortung auf mehrere Schultern in den Regionen. 

Die neue Verantwortung ergibt sich aus einem grundlegenden Perspektivwechsel. Danach werden die Schulen nicht mehr daran gemessen, was sie den Schülern an Stoff vermittelt haben (Input), sondern daran, was nach den pädagogischen Mühen am Ende rauskommt (Output). Freiräume suchen die Schulen auf folgen den vier Feldern: Unterrichtsorganisation, Ressourcenbewirtschaftung, Personalentwicklung sowie Mitwirkung und Partizipation. Inzwischen findet man diese vier Äcker der Selbstständigkeit bei den meisten Schulversuchen anderer Länder – bisweilen mit anderer Bezeichnung - wieder.  

Um mehr pädagogische Freiräume zu erhalten, müssen die selbstständigen Schulen einen Wechsel unterschreiben: Sie müssen sich wie der Patient beim Arzt auf pädagogische Gesundheit untersuchen lassen. Stichworte: Qualitätssicherung, interne Evaluationen und externe. 

Im Dickicht der Region
Ins Dickicht aus kommunalen Jugendhilfeträgern, der Berufswelt sowie der regionalen Bildungsträger und der Elternhäuser schlagen die Schulen auf je eigene Weise ihre Schneisen. Der Verlauf der Schneisen von oben betrachtet, zeichnet das Bild einer vielgestaltigen „Regionalen Bildungslandschaft“. Am Ende der Entwicklung selbstständiger Schulen sollten in NRW mindestens 19 Bildungslandschaften zu sehen sein. Vermittler zwischen Schulen und den Partnern in der Region sind die regionalen Bildungsbüros. Sie sorgen dafür, dass die Schulen auch nach dem Auslaufen des Modellversuchs kontinuierliche Unterstützung haben – und Ansprechpartner.  

Alle Schulformen sind im Modellversuch vertreten. Den größten Anteil davon machen die Grundschulen (84) mit 30 Prozent aus, gefolgt von Berufskollegs (51) mit 18 Prozent. Vergleichbar viele Gymnasien sind mit von der Partie: Gymnasien (43) kommen auf einen Anteil von 15 Prozent und rangieren somit auf dem dritten Platz.  

Für Schulleiterin Anni Schulz-Krause vom Schillergymnasium in Köln sind regionale Bildungslandschaften noch ein „Ideal, von dem man ein Stück weit entfernt ist“. Zwar unterhält das Gymnasium, das Bildung PLUS vor zwei Jahren kurz nach dem Start des Modellversuchs 2002 schon einmal befragt hatte, diverse Partnerschaften in der Region. Mit der Universität Köln, der Polizei Köln oder Versicherungsunternehmen. Geht es um neue Schülerinnen und Schüler, ist das Hemd näher als die Hose. Während das Gymnasium in der Oberstufe mit dem benachbarten Elisabeth-Thüringen-Gymnasium kooperiert, ist dieselbe Schule beim Kampf um Schulanfänger direkter Konkurrent. Die Vernetzung mit der Region ist gerade mal so weit fortgeschritten, dass die Schulleiterin von einer „lokalen Schullandschaft“ sprechen möchte. 

Vorbild Hochschule
Fortgeschritten ist hingegen die Unterrichtsentwicklung am Schillergymnasium. Die Pioniere der innerschulischen Selbstständigkeit sind hier die Lehrkräfte für Naturwissenschaften, die Physiker, Chemiker und Biologen. Diese Pädagogen haben sich vor zwei Jahren an einem Tisch gesetzt, um den Naturwissenschaften mehr Leben einzuhauchen. Pate für die neuen Unterrichtsformen waren die wissenschaftlichen Arbeitsformen an Hochschulen. Davon haben sich die Lehrkräfte anregen lassen. Mit Folgen für ein anderes Lernen.

Zunächst erhalten die Fächer Biologie in der achten Stufe, Physik in der neunten und Chemie in der zehnten mehr Zeit. In allen Fächern verteilt sich der Unterricht nach dem Schema eine Stunde im Klassenverband und zwei Stunden im Praktikum. Die Klassen mit einer Größe von rund 30 Schülerinnen und Schüler werden drastisch verkleinert, sie werden gedrittelt. In Gruppen zu zehn Schülern, aus denen wiederum Kleingruppen hervorgehen, lernen die Schüler in drei Arbeitszyklen.  

Schritt eins: Vorbereitung des projektorientierten Unterrichts. Unterschiedliche Themen und Forschungsgegenstände werden gesammelt. Anschließend werden Arbeitsaufträge verteilt. Es gibt mehr Arbeitsaufträge als Gruppen. Schritt zwei: Die Schüler experimentieren in Eigenregie. Die Lehrkräfte halten sich zurück. Sie agieren als Berater und Moderatoren. Schritt drei: Auswertungsphase. Dazu müssen die Schüler nicht immer in der Schule sein. Sie können die Arbeit auch zu Hause erledigen oder in Arbeitsgemeinschaften irgendwo auf dem Gelände der Schule. Die Gruppen können die drei Phasen zeitversetzt durchlaufen, nicht alle müssen alles zur gleichen Zeit machen. Naturwissenschaften erweisen sich so als doppelte Übung: Einerseits ist es ein Training in wissenschaftlichen Arbeitsweisen, andererseits eine Initiation in selbstständige Lernmethoden und Teamarbeit.

Spagat zwischen Freiheit und Notwendigkeit
Allerdings führt dieses Konzept nicht so weit, dass die Schüler die „Fächer auf sich zu schneiden könnten“. Die Schüler des heute selbständigeren Gymnasiums haben die üblichen Wahlmöglichkeiten. Schon allein die Aussicht, in Kürze, wie es die neue Landesregierung angekündigt hat, ein Zentralabitur absolvieren zu müssen und das bereits nach der zwölften Stufe, dürfte der Phantasie enge Grenzen setzen, wie die Schüler an der Stoffentwicklung beteiligt werden können. Schulentwicklung zur Selbstständigkeit ist hierbei auch ein Spagat zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen pädagogischer Kreativität und Lernen im Gleichschritt, zwischen Engagement und Druck von außen.   

Selbstständigere Arbeitsformen stehen auch für die jüngeren Schülerinnen und Schüler auf dem Plan. Jahrgangsübergreifende Methodentage richten sich nach der Maßgabe, dass Lernen ein individualisierter Prozess ist, der auf „unterschiedliche Lerntypen“ ausgerichtet werden muss. Zudem wird ein Lehrgang Neue Medien für die ganze Sekundarstufe I eingerichtet. Beim Projekt Bühnenkunst können die Schüler ihre kreativen und musischen Anlagen nach dem Muster des europäischen Sprachenportfolios zertifizieren lassen. Apropos Sprachen: Geschichtsunterricht und Erdkunde mit englischen Anteilen steht für die Mittelstufe auf dem Programm.   

Die schulische Freiheit am Schillergymnasium ist nicht entfesselt und sie macht nicht schwindelig. Nur so ist es zu erklären, dass die Eltern „ausgesprochen positiv reagieren“ – die Anmeldezahlen sind seit der Einführung des Projekts in die Höhe geschnellt. Eltern in Köln-Lindenthal fragten mittlerweile gezielt danach, ob die Schule auch eine selbstständige Schule sei, so die Schulleiterin. Klar gibt es einzelne Schüler, die sich nach den Routinen alten Zuschnittes sehnen, nach dem Trampelpfad des Frontalunterrichts, in der man sich auch gut verstecken konnte. Wichtig ist, das Schillergymnasium setzt sich mit der Schulentwicklung nicht unter Druck. „Langsam und stückchenweise nähern wir uns der schulischen Selbstständigkeit“. Klotzen auf der Ebene der Einzelschule muss nicht weiterführen. Jede Schule so wie sie kann - oder wie ihr geraten wird.   

„Verantwortung ist auch ein Gewicht“
Auf dem Feld der Organisation hat das Gymnasium eine Steuergruppe ins Leben gerufen. Die Gruppe besteht aus Vertretern der Schüler, Lehrer, Eltern und der Schulleitung. Diese Exekutive der Selbstständigkeit generiert Ideen, sammelt Vorschläge zur ihrer Realisierung und stellt sie auf der Schulkonferenz vor, wo darüber entschieden wird. Mögen böse Zungen behaupten, Selbstständigkeit der Schulen führe nur zur Selbständigkeit der Schulleitung, so trifft das jedenfalls auf das Schillergymnasium nicht zu. Entscheidet doch die Direktorin Schulz-Krause nicht allein über die Verwendung der Gelder, die auf dem Schulgirokonto eine flexiblere Handhabung der Mittel erlaubt als es an nicht selbständigen Schulen möglich ist. Über Mangel an Zeit kann sich das Gymnasium beklagen, nicht jedoch über Geldmangel. So konnte die Schule eine halbe Lehrerstelle „kapitalisieren“. Rund 14.000 Euro fließen auf das Schulkonto – halbjährlich.    

 „Verantwortung ist auch ein Gewicht“, sagt die Direktorin. Es sollte nicht von einem Direktor Atlas gleich getragen werden, der einsam unter der Last stöhnt. Schulentwicklung beim Schillergymnasium ist auch Teamentwicklung, das hat sich bei den Unternehmen herumgesprochen und wird auch an Schulen zunehmend gehört. Aus dieser Neubestimmung von schulischer Selbstständigkeit folgt auch der Bedarf an Fortbildungen. Zentrale Bedingungen des Gelingens sind nach Schulz-Krause die „Bereitschaft zur Innovation“ und die daraus folgende Verantwortung, die auf den Schultern der Schulleitung, der Lehrerschaft, der Eltern und auch der Schülerschaft ruht.   

„Eine der besten Entscheidungen“ sei es für das Schillergymnasium, am Modellversuch teilzunehmen, trotz der Zeitknappheit und der Belastungen. Die Schule habe „enorm an Bewegung und Innovationskraft gewonnen“, so die Bilanz von Anni Schulz-Krause. 

Es geht weiter, aber wie?

Nicht nur die Innovation bewegt die Menschen in Nordrhein-Wesfalten, auch die Frage: Wie geht es weiter mit der Selbstständigkeit unter der neuen CDU-geführten Landesregierung? Da die Landesregierung in diesen Tagen vor allem ihr Wahlkampfversprechen, die Verringerung des Unterrichtsausfalls, in Angriff nimmt, und bevorzugt neue Lehrkräfte einstellt, hängt die Richtungsbestimmung des Prestigeprojekts gegenwärtig in der Schwebe: Es geht weiter, aber wie? Die Gewerkschaften, die beim Feld „Mitbestimmung und Partizipation“ so manchen Projektschulen wichtige Schützenhilfe in demokratischer Schulentwicklung geben, erscheinen verunsichert. „Ich habe das Gefühl, dass die neue Landesregierung nicht weiß, welche Neuakzentuierung sie vornehmen möchte“, sagt Bildungsreferent Norbert Wichmann vom Deutschen Gewerkschaftsbund Nordrhein-Westfalen.   

Er sollte nicht Recht behalten. Drei Tage nach der Stellungnahme des Gewerkschaftsmannes sagte die neue Schulministerin Barbara Sommer am 19. August vor dem Landtag, dass sie über die „zukünftige Akzentuierung des Projektes“ nach Auswertung der Gespräche entscheiden werde. Es sieht aber schon jetzt so aus, als ginge es in Zukunft mehr um Leistung und Wettbewerb: „Aus diesem Grund wollen wir, dass sich die Schulen im Rahmen der Verantwortung und der Aufsicht des Staates dem Wettbewerb stellen.“ „Überprüfbare Leistung“ müsse zum Maßstab des Handelns werden. Wenn das nicht schon eine Akzentuierung ist?

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 25.08.2005
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