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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 15.11.2004:

"Von der Tagespflege zur Familientagesbetreuung"

Tagespflege soll zu einer eigenständigen Form öffentlicher Kinderbetreuung werden
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Quelle: Von der Tagespflege zur Familientagesbetreuung.

Im Bäckerladen des kleinen Ortes am Rande der Eifel hängt seit Wochen eine Anzeige. Eine Familie sucht für ihre anderthalbjährige Tochter und den sechs Monate alten Sohn eine Tagesmutter. Offensichtlich hat aber die Familie noch keine geeignete Betreuung gefunden. Im Ort selbst gibt es nur einen Kindergarten für die über dreijährigen Kinder.
So oder so ähnlich sieht es vielerorts im Westen Deutschlands aus. Mit dieser Situation "bildet Deutschland in Europa bei der Kinderbetreuung das Schlusslicht. Die Folgen sind fatal: Der Förderbedarf vieler Kinder bleibt unbeachtet, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist erheblich beeinträchtigt und in der Folge die Geburtenrate eine der niedrigsten der Welt", stellt Familienministerin Renate Schmidt fest.

Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG)
Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), das vom Bundestag am 28. Oktober 2004 beschlossen wurde, sollen die rechtlichen Voraussetzungen für einen bedarfsorientierten Ausbau der Kinderbetreuung der unter Dreijährigen geschaffen werden. Im Zentrum stehen dabei die Betreuungsangebote in Krippen, altersgemischten Gruppen und in der Tagespflege.
Bis 2010 sollen im Westen Deutschlands schrittweise 230.000 Betreuungsplätze geschaffen werden. Im Osten Deutschlands geht es darum, das deutlich umfangreichere Betreuungsangebot zu erhalten.

Tagespflege - wichtiger Teil der Kinderbetreuung
Tagespflege bildet bei diesem Vorhaben einen wichtigen Schwerpunkt. Verstanden wird darunter die Betreuung von

  • Kindern im Haushalt der Tagespflegeperson, meist einer "Tagesmutter",
  • Kindern im Haushalt der Eltern ("Kinderfrau" oder "Kinderbetreuerin")
  • mehr als drei Kindern im Haushalt der Tagespflegeperson oder in angemieteten Räumen ("Tagesgroßpflege")

Tagespflege ist in Deutschland schon seit längerem etabliert. Ihre Grundstruktur, einschließlich der damit verbundenen Probleme, hat sich seit den 70er Jahren nur punktuell verändert. Eine qualitative Entwicklung ist dringend erforderlich, damit dieser Bereich den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen der Kinder und der Familien gerecht wird. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gab deshalb ein Gutachten in Auftrag, in dem die Tagespflege und alle mit ihr verbundenen Fragen untersucht, Probleme aufgezeigt und Lösungsvorschläge erarbeitet wurden. Inzwischen liegt das Gutachten vor, das vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Rauschenbach und Prof. Dr. Wolfgang Tietze erstellt wurde.

Im Folgenden soll auf einige Schwerpunkte dieses Gutachtens eingegangen werden.

Gegenwärtige Situation
Kinder unter drei Jahren werden heute meist in einer Familie betreut. Nur für neun Prozent - drei Prozent in Westdeutschland und 37 Prozent in Ostdeutschland - steht ein Krippenplatz zur Verfügung. Die Tagespflege erfasst schätzungsweise höchstens drei Prozent der kleinen Kinder. In den östlichen Bundesländern liegt der Anteil wahrscheinlich noch niedriger, weil dort das Angebot an Krippen wesentlich höher ist. In Westdeutschland herrscht nach wie vor die Kinderbetreuung in der Familie bei Teilzeiterwerbstätigkeit der Mütter vor, während in Ostdeutschland eine institutionalisierte Kinderbetreuung bei hoher Vollzeiterwerbstätigkeit der Mütter dominiert.
Die Debatte darum ist noch immer stark ideologisiert und durch wechselseitige Vorbehalte geprägt. Im Gutachten wird deshalb gefordert, "unterschiedliche Orte des Aufwachsens nicht gegeneinander in Konkurrenz zu setzen, sondern im Interesse einer guten Betreuung und Erziehung von Kindern dazu beizutragen, dass diese sich mit ihren jeweiligen Stärken ergänzen und so zugleich ihre Schwächen kompensieren".
Mit einer Weiterentwicklung des Systems der Tagespflege bietet sich die Chance, die Vorteile einer Betreuung in einer familiären Umgebung mit denen einer professionellen zu verbinden.

Warum Ausbau von Kinderbetreuung?
Deutschland hat im internationalen Vergleich einen sehr hohen Anteil von Haushalten, in denen die Frau nicht erwerbstätig ist. Dennoch steigt die Erwerbstätigkeit von Müttern. Zugleich ändern sich die Arbeitsteilung der Eltern sowie die Anteile von Vollzeit, Teilzeit und Familientätigkeit. Eltern sind zunehmend auf ein zweites Einkommen angewiesen. Darüber hinaus erfordert die Erwerbstätigkeit mehr räumliche und zeitliche Flexibilität. Deutschland brauche, so das Autorenteam, nicht nur mehr, sondern auch flexiblere Kinderbetreuung. Hierbei eröffne insbesondere die Tagespflege Möglichkeiten, Formen der Betreuung anzubieten, die auf die Bedürfnisse der Eltern zugeschnittenen sind.

Im Gutachten wird auch auf Zusammenhänge zwischen verbesserter Kinderbetreuung und höherer Geburtenrate hingewiesen. Mit einer Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau liegt Deutschland im Vergleich mit anderen Industriestaaten im unteren Drittel. Familienbezogene Dienstleistungen rücken deshalb in Deutschland mehr in den Mittelpunkt. Im Blickpunkt dabei auch die Potenziale der Tagespflege.

Die gestiegene Bedeutung der frühkindlichen Förderung ist ebenfalls ein Grund, die Tagespflege auszubauen. Schließlich ist die frühe Kindheit die lernintensivste und prägendste Phase in der Entwicklung eines Kindes. Daher gelte für Familien, öffentliche Einrichtungen und Tagespflege gleichermaßen, die Betreuung von kleinen Kindern nicht auf die Aufbewahrung zu reduzieren, sondern die pädagogische Qualität sicherzustellen.

Vorteil und Nachteil der Tagespflege
Als familienfreundliche Betreuungsform hat die Tagespflege den Vorteil, dass Eltern ihren Betreuungsbedarf individuell aushandeln können. Eine begrenzte Gruppengröße, familiäre Umgebung und Atmosphäre, in der auf die Persönlichkeit der Kinder gut eingegangen werden kann, können die Entwicklung positiv beeinflussen.
Aber Tagespflege ist ein sehr heterogener Bereich. Sie bewegt sich zwischen privater und öffentlicher Kinderbetreuung. Bisher gibt es keine verbindlichen Kriterien für die Eignung von Tagesmüttern. Somit ist die Qualität der Betreuung nicht gesichert.
Im Gutachten wird darauf hingewiesen, dass Tagesmütter vielfältige Erziehungskompetenzen zwar mitbringen können, aber diese "können jedoch nicht umstandslos und als natürliche Ressource vorausgesetzt werden".

Ziel: Tagespflege als qualitativ gleichwertige Form der Kinderbetreuung
Tagespflege soll im Interesse aller Beteiligten "zu einer eigenständigen Form öffentlicher Kinderbetreuung ausgebaut werden, die an die Stärken einer familiennahen Tagespflege ansetzt, jedoch zur Sicherung ihrer Qualität und zur Optimierung ihrer Potentiale öffentlich verantwortet, organisiert und reguliert wird". Tagespflege müsse künftig in der Lage sein, einen substantiellen Beitrag zur Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern unter drei Jahre zu leisten. Dazu gehöre, die "Unbestimmtheiten und Mängel der Tagespflege zu beheben, ihren diffusen Zwischenstatus zu klären und sie zu einem Segment öffentlicher Kinderbetreuung zu machen". Für diese Weiterentwicklung empfiehlt das Autorenteam, vier Perspektiven zu beachten:

  1. Bedarfsgerechtigkeit,
  2. Fachgerechtigkeit,
  3. Arbeitsmarktgerechtigkeit,
  4. Sachgerechtigkeit.

Entscheidend für den Ausbau der Tagespflege ist ein Qualitätsschub. Dazu gehören stabile und kontinuierliche Betreuungsverhältnisse, qualifizierte Tagespflegepersonen, die in ein System integriert sind, wo ihre Eignung überprüft werden kann, wo sie fachlich beraten und begleitet werden sowie ihre Fortbildung sichergestellt ist. Für Eltern ist wichtig, dass sie sich über die Qualität und Eignung der Tagespflegestelle informieren und zugleich beraten lassen können. Zur Sicherung der Qualität der Tagespflege gehören unbedingt geeignete Arbeitsbedingungen und angemessene Honorierung für die Tagespflegepersonen sowie ihre soziale Absicherung.

Diese Veränderungen brauchen Zeit, ehe aus der gegenwärtigen "Tagespflege" ein qualitativ gleichwertiges und verlässliches Angebot zur institutionellen Kindertagesbetreuung werden kann. In diesem Zusammenhang wird im Gutachten vorgeschlagen, den Begriff "Tagespflege" durch "Familientagesbetreuung" zu ersetzen.


Das Gutachten "Von der Tagespflege zur Familientagesbetreuung. Zur Zukunft öffentlich regulierter Kinderbetreuung in Privathaushalten" ist erschienen im Beltz Verlag, ISBN 3-407-56295-0.

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 15.11.2004
© Innovationsportal

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