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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 22.03.2004:

Natur und Geist verstehen

"Physik im Kontext" soll Schülerinnen und Schüler mehr für Naturwissenschaften und Technik aufschließen
Das Bild zum Artikel
Prof. Manfred Euler vom Leibniz-Institiut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel

Online-Redaktion: Woran krankt der Physikunterricht heute?

Euler: Physik als Schulfach leidet unter einem schlechten Ruf. Befragt man Schülerinnen und Schüler nach ihren Lieblingsfächern und nach den am wenigsten beliebten Fächern, so ergibt sich leider ein ziemlich eindeutiges Bild: Die "harten" Naturwissenschaften, Physik und Chemie, werden von rund 30 Prozent der Befragten als am unbeliebtesten eingestuft; nur für jeweils 10 Prozent gelten sie als Lieblingsfächer. Das Negativ-Positiv-Verhältnis von 3:1 stimmt ziemlich genau mit der Bewertung von Latein überein, und so muss man sich fragen, ob die beiden Fächer nicht das gleiche Schicksal wie eine ausgestorbene Sprache erleiden und zum Latein der Wissensgesellschaft werden. 

Das Negativimage von Naturwissenschaften hat sicher sehr viele Ursachen, die nicht nur in der Schule, sondern auch in unserer Gesellschaft zu suchen sind, doch etwas an der Art, wie Physik an den Schulen vermittelt wird, ist nicht in Ordnung. Physikunterricht ist zumeist sehr systematisch und häufig trocken und theoretisch. Der Bezug zu unserem Alltag und zu der Lebenswelt kommt oft zu kurz.

Man erfährt viel von der Last der Erkenntnis, die Lust an Erkenntnis bleibt auf der Strecke. Man benötigt einen langen Atem, denn erst in einem fortgeschrittenen Stadium fügt sich das angehäufte Wissen zu einem kohärenten Bild zusammen. Dieses Stadium erreichen nur wenige Schüler, da vorher eine Abstimmung mit Füßen stattgefunden hat. 

Online-Redaktion: Vor allem Mädchen werden häufig vom Physikunterricht abgeschreckt. Was müsste man tun, um ihr Interesse wieder zu wecken?

Euler: Das Fach Physik wirkt für viele wie eine schwer einnehmbare Festung. Vor allem Mädchen werden ganz besonders vom Physikunterricht abgeschreckt. Man hat das lange als unvermeidlich hingenommen, aber das muss nicht sein; es ist kein Naturgesetz. Es gibt Gegenbeispiele, von denen man lernen kann. Als Reaktion auf das schlechte Image von Naturwissenschaften, aber auch aus berechtigter Sorge um qualifizierten Nachwuchs, sind bei uns in jüngster Zeit eine Reihe von Initiativen im Bereich des informellen, außerschulischen Lernens entstanden. Sie zielen auf die Vermittlung eines authentischen Bildes von Naturwissenschaft und Technik ab.  

Es gibt beispielsweise eine Reihe von Forschungsinstituten, Hochschulen und Firmen, die Labore für Schüler eingerichtet haben. Hier können ganze Klassen, aber auch individuelle Schülergruppen experimentell arbeiten und konkrete, praktische Erfahrungen sammeln. In derartigen Lernumgebungen wird die abstrakte Physik in Verbindung gebracht mit Fragestellungen aus dem Alltag, der natürlichen und technischen Lebenswelt und dem, was aktuell in der Forschung passiert. 

Anders als im Unterricht ist hier die Erfahrung äußerst positiv: es gibt nicht das berüchtigte "Gender Gap". Bei solchen Initiativen finden gleichermaßen sowohl Mädchen als auch Jungen die aktive Beschäftigung mit physikalischen und technischen Fragestellungen interessant und bedeutsam. 

Online-Redaktion: Mädchen und Jungen haben offenbar verschiedene Herangehensweisen an die Physik. Welche Stärken haben beide Gruppen? 

Euler: Im Physikunterricht kommt es bisweilen zur Konkurrenz zwischen Jungen und Mädchen. Manche Jungen, die sich in ihrer Kindheit viel mit technischem und naturwissenschaftlichem Spielzeug auseinander gesetzt und dabei vieles spielend gelernt haben, sind beim Experimentieren vielleicht fixer und haben hier gewisse Vorteile. Vor allem ist das Selbstkonzept der Jungen stärker, was aber auch schnell zur Selbstüberschätzung führt. Umgekehrt vertiefen sich Mädchen viel engagierter in Probleme, die für sie von Bedeutung sind. 

Wir haben solche Erfahrungen in einem Projekt zur Messwerterfassung und Datenanalyse mit Computern gemacht, das einfache Low-cost Komponenten zur Bestimmung des Bremswegs beim Fahrrad benutzt. Mädchen, die vorher gesagt haben, sie hätten überhaupt keine Erfahrung mit Computern, lieferten am Ende ein viel besseres Ergebnis ab als Jungen. Man muss dafür sorgen, dass man den Interessen von Jungen und Mädchen gerecht wird. Unsere Erfahrung zeigt, dass Mädchen pragmatischer sind. Man muss sie mit Themen und Fragestellungen abholen, deren Bedeutung sie einsehen. 

Online-Redaktion: Nicht nur der Physikunterricht kränkelt. Die Physik hat als Wissenschaft mit einem zweifelhaften Ruf zu kämpfen. Woran liegt das? 

Euler: Physik und Technik sind im Bewusstsein der Menschen vielleicht zu stark mit dem Attribut der Beherrschung der Natur verknüpft. Physikalische und technische Erkenntnisse wurden und werden zu kriegerischen Zwecken angewandt, das ist ein Problem, das sie mit allen Werkzeugen teilen, die von Menschen erschaffen werden.

Auf der anderen Seite ist die Physik die Methode zur Naturerkenntnis, die seit der Antike auf die Erforschung und das rationale Verständnis von Naturerscheinungen gerichtet ist. Die Menschen haben einen natürliches Grundbedürfnis nach Erkenntnis. Wir wollen wissen, was die Welt zusammenhält. Wir wollen verstehen, wie wir selbst funktionieren, wie die Welt funktioniert, wie das Universum funktioniert. Wir wollen wissen, wer wir sind und wohin wir gehen. Dafür treiben wir Wissenschaft. 

Online-Redaktion: Die Physik wird von manchen mit der Entfesselung der Erkenntnis in Verbindung gebracht. Sinnbild dieser Entfesselung ist die Atombombe. Welche Konsequenzen sind aufgrund dieser Entwicklung für den Physikunterricht zu ziehen? 

Euler: Natürlich muss unser Wissensdurst im Einklang mit Ethik und verantwortlichem Handeln stehen. Wir haben nur eine gemeinsame Welt, die es zu bewahren gilt. 

Dafür brauchen wir Naturwissenschaft und Technik. Naturwissenschaftliche und technologische Entwicklungen eröffnen viel versprechende neue Möglichkeiten. Nicht nur im Bereich der Kommunikation, sondern auch bei Gesundheit und Ernährung gibt es realistische Chancen, die Bedingungen menschlichen Lebens in einem globalen Maßstab zu verbessern. Dass wir sie derzeit nicht im wünschbaren Maß nutzen liegt nicht an den Wissenschaftlern. Es gibt realistische Erwartungen an neue Technologien, die zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen und die Umwelt weniger schädigen.

Wir beginnen, Werkzeuge auf der Mikro- und Nanometer-Skala zu nutzen und Prozesse zu verstehen und umzusetzen, welche die Werkstatt der Natur im Lauf der Evolution erfolgreich entwickelt hat. Wir entwickeln ein zunehmendes Verständnis für die Geheimnisse des Lebens und die Funktion unsers Gehirns. Naturwissenschaftliches Wissen ändert grundlegend unsere Sicht der Welt. 

Wie überall sind Risiken und Chancen miteinander eng verschränkt. Umso mehr müssen wir die naturwissenschaftliche Bildung in der Schule fördern. Wir benötigen mündige und informierte Bürgerinnen und Bürger, die in der Lage sind, ihre Entscheidungen rational zu treffen und zu begründen.  

Online-Redaktion: Der Physikunterricht soll nicht nur im Treibhaus der Schule vermittelt, sondern in verschiedene, belebende Umgebungen eingebettet werden. Was bezweckt das Programm zur naturwissenschaftlichen Grundbildung "Physik im Kontext"? 

Euler: Die Treibhaus-Metapher ist gut, denn sie zeigt, dass die Physik uns überall umgibt. Um ein Treibhaus zu verstehen, braucht man einiges an physikalischem Wissen! Es geht darum, den Unterricht stärker in sinnstiftende und für das Lernen bedeutungsvolle Kontexte einzubetten. Der Wissenserwerb soll Spaß machen, und das nicht nur oberflächlich. Die Lernenden sollen sich mit dem Unternehmen Naturwissenschaft stärker identifizieren, es als einen Teil ihrer und unser aller Kultur begreifen.

Schüler sollen und müssen eine stärker aktive Haltung einnehmen und Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen. Physikalisches Wissen lässt sich nicht vermitteln; man muss es aktiv erarbeiten. Physik im Kontext setzt daher auf drei verschiedene Kontexte:

  1. die thematischen Kontexte. Dazu gehören Themen aus Alltag, Lebenswelt, Technik, besonders spannende Themenbereiche moderner Physik, die uns alle angehen, z.B. die Physik des ganz Großen und ganz Kleinen, Kosmologie und Nanoscience, aber auch interdisziplinäre Themenfelder wie Physik und Leben.
  2. die Lernumgebung als Kontext. Ihre Gestaltung ist ausschlaggebend dafür, ob es gelingt, Schülerinnen und Schüler in selbständige, eigenverantwortliche Lernprozesse einzubinden.
  3. außerschulische Kontexte. Hierzu gehören neben den zuvor erwähnten außerschulischen Lernorten die Einbindung von praktischen Erfahrungen aus der Berufswelt und der Wirtschaft.    

Natürlich gibt es bereits eine Reihe von Lehrerinnen und Lehrern, die das Fach in verschiedene Kontexte einbetten, doch diese Bewegung muss in die Breite getragen werden. Wenn man einen Blick auf den Physikunterricht wirft oder auf die Physikbücher, dann sind die Kontexte meistens nur eher ein Anhang des Unterrichts. 

Im typischen Standardablauf des Unterrichts gibt es am Anfang die Demonstration eines physikalischen Phänomens oder ein Experiment. Das wird genauer untersucht, und zwar zumeist ganz stark lehrergeleitet, und am Ende steht eine Formel, die bestenfalls mit ein paar Anwendungsbeispielen erläutert wird. Im Zentrum steht ein stark systematisierter Unterricht und ein Anwendungskontext wird allenfalls als Sahnehäubchen draufgegeben. Dass man auch umgekehrt vorgehen kann und mit einer durchaus komplexen Problemstellung starten kann und Schüler Probleme erarbeiten lässt, findet zu selten statt. 

Online-Redaktion: "Physik im Kontext" ist auch eine Folge von PISA & Co. Was können Schülerinnen und Schüler bereits gut und wo müssten sie sich verbessern? 

Euler: Im Vergleich der TIMSS- und PISA-Ergebnisse der verschiedenen Länder kann man sehr gut erkennen, dass der deutsche Physikunterricht tendenziell weniger Probleme in der Vermittlung von Faktenwissen hat. Deutschen Schüler haben eher Schwierigkeiten, dieses systematische Wissen anzuwenden. Denn sobald es darum geht, das physikalische Wissen in den Kontext von Alltags- und Lebensweltsituationen zu stellen und anzuwenden, fallen hiesige Schüler im Vergleich zu denen aus anderen Ländern zurück. 

Das zeigt: die Kontexte dürfen nicht nur nebenbei angesprochen werden. Die Jugendlichen müssen lernen, physikalische Fragestellungen in verschiedenen Kontexten anzuwenden - das erfordert ein anderes Herangehen.

Online-Redaktion: Was fasziniert Sie an der Physik? Und wie kann Physik im Leben der Schülerinnen und Schüler heute neu verankert werden?

Euler: Für das praktische Leben sollten mehr Alltagsbezüge hergestellt werden. Die von vielen Schülern benutzte, aber nicht durchschaute Technik etwa im Handy, aber auch sicherheitsrelevante Fahrzeugtechnik etwa beim ABS oder beim ESP liefert weitere Ankerpunkte. Der Bezug von Physik und Technik zum Menschen, das Anknüpfen an Sehen, Hören, Fühlen ist nach meiner eigenen Erfahrung ganz zentral. Vieles, was wir heute erfinden, hat die Natur im Lauf der Evolution bereits längst gefunden.   
 
Über das rein Praktische hinaus liegt die Faszination Physik für mich noch auf einer anderen Ebene. Für mich persönlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlicher und künstlerischer Kreativität. Bilder und ihre kreativen Umwandlungen spielen in beiden Bereichen eine bedeutende Rolle. Allerdings, anders als in der Kunst, sind in der Physik unsere inneren Bilder immer an der harten Wirklichkeit zu messen. Dynamische Bilder und mathematische Formeln, die physikalische Zusammenhänge repräsentieren, bilden für mich eine Einheit.  

Es besteht außerdem, für manche vielleicht überraschend, ein enger Zusammenhang zwischen der physikalischen Begriffsbildung und der Musik. In der Kulturgeschichte der Physik hat die Musik an vielen Stellen theoretisch und experimentell Pate gestanden. Das hat man heute leider vielfach verdrängt.   

Harmonie und Struktur lassen sich in Zahlen und ihren Verhältnissen ausdrücken, das weiß man seit Pythagoras. Der Begriff "rational" sagt übrigens genau das. Das pythagoreische Programm, Strukturen mathematisch zu fassen ist in der Physik noch heute aktuell. Es erlaubt sogar, höchst komplexe Systeme wie unser Gehirn besser zu verstehen. Diese enge Verquickung von Natur und Geist, von Wirklichkeit und von unseren Weltbildern zu hinterfragen und kreativ weiter zu entwickeln ist für mich die Kernaufgabe einer zeitgemäßen naturwissenschaftlichen Bildung. 

 
Prof. Dr. Manfred Euler, derzeit für verschiedene nationale und internationale Projekte zur Verbesserung der Qualität des naturwissenschaftlichen Unterrichts tätig. Seit 1997 Direktor am Leibniz-Institiut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel (IPN). Geb. 1948, Diplom und Promotion in Physik an der Universität Gießen. Habilitation (Didaktik der Physik, Duisburg 1981). 1987-1991 Professor für Physik an der FH Hannover, danach Lehrstuhl für Didaktik der Physik an der Universität Paderborn.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 22.03.2004
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