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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 09.02.2004:

Neue Grundschulen will das Land

Nordrhein-Westfalen will Horte durch Ganztagsgrundschulen ersetzen
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Düsseldorf am Abend, lebhafte Diskussion in den Zuhörerrängen über offene Ganztagsgrundschulen in der Aula der Theodor-Heuss-Grundschule
Bildrechte: Bildung PLUS

Seine hellen Augen leuchten, während er in der Aula der Theodor-Heuss-Grundschule in Düsseldorf über seine Schule spricht. Der Hausmeister ist ein Urgestein, das die wechselnden Zeiten dieser Schule verkörpert. Errichtet 1936, Volksschule, Hauptschule und vor fünf Jahren ist die Hauptschule mangels Schülerzahlen "eingegangen".

Alfred Kothen ist seit 39 Jahren Hausmeister dieser Schule, ein Tatmensch, der auflebt, wenn er organisieren, ordnen, Türen auf-  und wieder zuschließen kann, halt für alle ansprechbar ist. Er ist es mittlerweile gewohnt, im regionalen Rampenlicht zu stehen. Sein Tatendrang hat sich in der Regionalpresse herumgesprochen. So gegenwärtig der Hausmeister in allen Fluren und Klassenzimmern der Schule ist, so sehr tritt der ältere Mann in einem der ersten neuen Häuser des Lernens zurück, wenn über Bildungspolitik diskutiert wird.  

Offen für "offene Ganztagsgrundschulen"
Hochrangige Gäste besuchen am 15. Januar 2003 die Aula der Theodor-Heuss-Grundschule, um den Häusern des Lernens einen Rahmen zu geben. Ute Schäfer, Ministerin für Schule, Jugend und Kinder, der Stadtdirektor der Stadt Düsseldorf, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU), und die umtriebige Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, diskutieren über "Neue Möglichkeiten für Bildung und Erziehung" an offenen Ganztagsgrundschulen. Geladen hatte der Verein Schulen ans Netz, eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ursula Reucher, Rektorin der Theodor-Heuss-Grundschule, berichtet über die Erfahrungen, die sie mit ihrem neuen Haus des Lernens gemacht hat. In Düsseldorf sind seit dem Schuljahr 2003/2004 sieben Schulen so genannte "offene Ganztagsgrundschulen" geworden. 

Allein in Düsseldorf sollen es bis zum Jahr 2007 über vierzig Schulen werden. Die Landesregierung will bis dahin 200.000 Kindern einen Platz in den neuen Ganztagsschulen anbieten, "eines der ehrgeizigsten Projekte der Landesregierung", sagt Ute Schäfer, leger gekleidet mit schwarzer Lederjacke. Die Ministerin ist überzeugt, dass die Landesregierung "überrannt wird". Der Bedarf sei schon jetzt sehr hoch. 

Ein paar Wermutstropfen sind allerdings dabei: Die Horte, die mit ihrer intensiven Betreuung einen guten Ruf in Nordrhein-Westfalen genießen, sollen bis 2007 nach und nach aufgelöst und durch offene Ganztagsgrundschulen abgelöst werden. Derzeit gibt es über 40.000 Horte in NRW, zu wenig für die Verfechter der Horte. Warum sind Horte so begehrt? Ein Hort ist ein Angebot der Jugendhilfe, das aus ca. 20 Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren besteht und von zwei Betreuerinnen begleitet wird. Das heißt, auf zehn Kinder kommt eine Betreuerin. Das Angebot wird auch in Ferienzeiten aufrechterhalten. Die mächtigste Lobby für die Hortbetreuung kommt von Seiten der Kirche. 

Der Hort geht, die Ganztagsgrundschule kommt
Neue Freunde kennen lernen, soziales Lernen, Freizeit sinnvoll gestalten, etwas erleben zu erschwinglichen Preisen, das sind die Lockrufe, mit denen die Befürworter der Horte Unterstützerinnen und Unterstützer suchen. Die Erzdiözese Köln hat mit Pro Hort eine Kampagne für das Überleben des Hortes initiiert. Eine "Argumentationshilfe" zur Kampagne führt 20 Argumente für den Hort auf.

Die wichtigsten: Der Hort biete seine Angebote auf der Grundlage von bewährten sozialpädagogischen Konzepten an. Er sichere eine kontinuierliche Betreuung auch in den Ferienzeiten. Kindgerechte Räume und Spielplätze im Freien könnten die Kinder ihr Eigen nennen. Der Finanzierungsanteil der Eltern liege mit durchschnittlich 42 EUR im Monat weit niedriger als der von 100 EUR, der bei offenen Ganztagsschulen anvisiert ist. Starke Argumente betreffen ferner die Mitgestaltung des Angebotes. Eltern könnten in "allen wesentlichen Fragen" mitwirken. Die Kinder beraten über ihre Nachmittagsangebote mit.  

Düsseldorf: Gutes Pflaster für Ganztagsgrundschulen
Der Düsseldorfer Stadtdirektor steht zwischen den Stühlen, den Horten und den Ganztagsgrundschulen. Er argumentiert sachlich und konstruktiv. "Der Hort ist die dichteste Betreuung für die Kinder", sagt Grosse-Brockhoff und "nicht weniger gefragt". Nicht weniger gefragt als die Ganztagsgrundschule, aber vor allem nicht finanzierbar im großen Stil: "Der Hort kostet mit seiner Betreuungsdichte ein Vielfaches von dem, was ein Platz an der Offenen Ganztagsgrundschule kosten würde." Pro Jahr wären das über 5000 EUR je Kind.

Zum Vergleich: Ein Ganztagsschulplatz in NRW wird mit 1230 EUR pro Jahr je Kind bezuschusst. Davon soll das Land 820 EUR tragen und die Kommunen 410 EUR. Düsseldorf hat im Unterschied zu anderen Städten einen ausgeglichenen Haushalt. So lässt sich die Landeshauptstadt das Projekt das Doppelte kosten, ganze 2360 EUR. Will Grosse-Brockkhoff eine Parallelstruktur mit Horten und Ganztagsgrundschulen aufrechterhalten? 

Die Schulministerin sicher nicht: "Zu teuer für einen flächendeckenden Ausbau" entgegnete Ute Schäfer bereits in der Rede vom 24. August 2003 auf Argumente pro Hort in Hagen. Offene Ganztagsschulen koppeln den Erziehungs- und Bildungsauftrag von Jugendhilfe und Schule zu einem Ganzen. Und Chancengleichheit ließe sich mit der Vermehrung der Horte auch nicht erzielen. Jedes siebte Kind in NRW wachse in "relativer Armut" auf.

"Wir dürfen den Kindern nicht zumuten, für ein geeignetes Förderangebot durch die halbe Stadt zu fahren", sagt sie. Chancengleichheit für Mütter, Väter, aber auch für die Kinder, die ein Recht auf nachhaltige Bildung und Erziehung hätten, sei nur durch eine Alternative zu den Horten zu erreichen: "Der Hort kann die Chancengleichheit nicht herstellen, weil er für einen flächendeckenden Ausbau nicht taugt", so die Ministerin.

Bleiben den Schülern und Eltern bei der Ganztagsschule erweiterte Spielräume versagt, die sie im Hort haben? Nein, denn offene Ganztagsschule sei als Teil eines umfassenden Konzeptes in andere Maßnahmen zur individuellen Förderung eingebettet. "Kindergärten mit Bildungsauftrag" oder die avisierte "selbstständige Schule" trügen dazu bei, die Eigenverantwortung von Kindern zu stärken. 

Die Schulleitung fordert mehr Selbstständigkeit, um Kinder individuell zu fördern
Die Nachfrage nach Ganztagsbetreuung an der Theodor-Heuss-Grundschule übersteigt zur Zeit die Kapazitäten: "Die Akzeptanz der Elternschaft ist sehr hoch", sagt Reucher. Fast 100 Eltern wollten ihre Kinder anmelden, 50 Kinder in zwei Gruppen wurden schließlich ausgewählt, nach klar umrissenen Kriterien: "Wir haben dabei nicht nur Kinder aus sozial benachteiligten Familien genommen, sondern ein ausgewogenes Verhältnis gesucht von Eltern, die finanziell stark sind, Familien, in denen beide Eltern arbeiten und Eltern, die Hilfe zum Lebensunterhalt benötigen". Die Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, stellt fest, dass auch in Bonn die Anmeldezahlen "dramatisch" steigen. Es gehe um die Frage der Identität und des Dazugehörens: Eltern und Kinder wollen nicht das Gefühl haben, außen vor zu bleiben. 

Ursula Reucher, Rektorin der Theodor-Heuss-Grundschule, legt Wert auf "Spielräume": "Kinder wünschen sich mehr Zeit in Gruppen", sagt sie. Sie überlegt, an einem Tag in der Woche einfach nur ein Treffen der Schülerinnen und Schüler zu organisieren, ohne Programm. Individuelle Förderung erfordert mehr Selbstständigkeit der Schulleitung. So kann sie je nach Fall mit dem Kollegium entscheiden, wie Kinder gefördert werden, die fünf Angebote wahrnehmen wollen, und andere, die nur eines wünschen. 

Und da Neue Medien auch bei Grundschulkinder sehr gefragt sind, möchte sie in Zukunft, entsprechende Kurse einrichten. Geld für außerschulische Kooperationspartner, die diese Kurse durchführen, sei genügend da: "Diesen Betrag haben wir noch gar nicht ausgeschöpft." Offene Ganztagsgrundschule heißt, dass die Schule immer mehr Teil am Leben im Viertel hat. Für diese Aufgabe möchte die Theodor-Heuss-Grundschule in die Öffentlichkeitsarbeit investieren. Ob Basteln einer Homepage, Umgang mit Digitaler Kamera, Know-how in Selbstdarstellung - "wir brauchen Unterstützung", sagt Reucher. 

Quo vadis, Ganztagsgrundschule?
Die Ganztagsgrundschule wird zum Spiegel der Gesellschaft im Kleinen. "Der Professionen-Mix ist das Spannende an der Schule", sagt die Schulministerin. Während die Kooperationspartner der Ganztagsgrundschulen ihr Fachwissen als Computerfachleute, Musiklehrer, Sportlehrer oder Ähnliches in die offene Ganztagsgrundschule einbringen sollen, erwartet Schäfer von den Lehrerinnen und Lehrern, "guten Unterricht zu machen".  Das schließe auch die Fähigkeit ein, mit den Kindern nachmittags zu leben. Erst an dieser Stelle tat sich Dissens auf zwischen Schulministerin und Elternvertreterin in einer ansonsten eher widerspruchsfreien Debatte über Ganztagsgrundschule. Zwar gesteht Schäfer ein, Lehrer sollten nicht nur Wissensvermittler sein. Doch lässt Schäfer nicht erkennen, dass sie willens ist, die Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen von Grund auf umzukrempeln.

Lehrer mit alten Zöpfen sind den neuen Aufgaben nach Hendricks nicht mehr gewachsen. Die Lehrerbildung müsse "komplett neu gestaltet" werden, sagt Hendricks, orientiert an einem ganzheitlichen Ansatz. Grundschullehrer müssten lernen, mit anderen Professionen zusammenzuarbeiten, Teamspieler zu werden, statt Einzelkämpfer, weniger Fachmann und Fachwissenschaftler, sondern mehr Psychologe zu sein. Das Ganze sei ein noch größeres Ganztagsschul-Projekt als das in Rheinland-Pfalz: "Die Schwierigkeit ist, den Tanker - ein Land mit rund 800.000 Grundschülerinnen und Schülern sowie 170.000 Lehrerinnen und Lehrern - nicht nur in Fahrt zu bringen, sondern auch in die richtige Richtung", bilanziert Hendricks.

Der Letzte, der das Gebäude der Theodor-Heuss-Grundschule nach der Diskussion verlässt, ist der Hausmeister, der in diesem Jahr in Rente geht und noch nicht weiß, was er dann mit seinen Kräften anstellen soll.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 09.02.2004
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