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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 14.08.2003:

"Schule und Ganztagsschule sind identisch"

Frankreichs Schulsystem in der Praxis - eine Blick nach Marseille
Das Bild zum Artikel
Schüler/innen des Collège Pythéas in Marseille
Quelle: Collège Pythéas

Schule in Frankreich
Im Französischen gibt es keinen Ausdruck für Ganztagsschule. Schule und Ganztagsschule bilden eine sprachliche Einheit. Zudem verläuft die Zeitstruktur der französischen Schule parallel zur Zeitstruktur der Arbeitswelt.
Die Schulpflicht erstreckt sich vom 6. bis zum 16. Lebensjahr. Allerdings beginnt die Schullaufbahn der meisten Kinder bereits mit drei Jahren in der "école maternelle". Das Lehrpersonal in der "école maternelle" hat denselben Abschluss und erhält dieselbe Bezahlung wie die Kolleginnen und Kollegen in der Grundschule ("écoles primaires"). Die gültigen Lehrpläne und die Einteilung in altershomogenen Gruppen weisen deutlich auf den schulpropädeutischen Charakter der "école maternelle" und auf personelle, strukturelle und inhaltliche Kontinuität im Schulsystem hin.
Die "école primaire", die Grundschule, umfasst die Klassenstufen 1 bis 5. Daran schließt sich die einheitliche vierjährige Sekundarschule (collège unique) an.
Im Prinzip durchlaufen also alle Kinder bis zum 16. Lebensjahr dieselbe Schullaufbahn in einer einheitlichen Schulform.

Schule bedeutet in Frankreich einerseits Unterricht, das heißt ein einheitliches, zentral festgelegtes Schulprogramm. Andererseits ist Schule aber auch viel gemeinsam verbrachte Zeit, meist von 8.30 Uhr bis 16 30 Uhr in der Sekundarstufe. Unterricht findet am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag ganztägig statt und am Sonnabend den halben Tag. Der Mittwoch ist zwecks religiöser Erziehung - außerhalb der laizistischen Schule - in der Grundschule ganz und ab der Sekundarstufe halb frei. Der Samstag ist traditionell nicht frei, auch nicht in der Grundschule.


Das "Collège Pythéas" in Marseille
Für die Studie und die Befragungen wurde das "Collège Pythéas" in Marseille ausgewählt. Gründe dafür waren:

  • Diese Schule gehörte zum Netzwerk eines langjährigen Forschungsprojektes zwischen Frankfurt am Main und Marseille, das sich intensiv mit dem Thema "Migration und Integration von Migranten im Städtevergleich zwischen Frankfurt am Main und Marseille" auseinandersetzt.
  • Durch dieses Projekt entstanden intensive Kontakte zu Schulen, Schulbehörden, Universität, zum Bereich der Sozialarbeit und entsprechenden Institutionen, die für eine Untersuchung dieser Art unverzichtbar sind. Durch ein früheres Forschungsprojekt war die Gewähr gegeben, dass sich der Blick nicht nur auf Schule an sich verengte.
  • Partnerschule des Collège Pythéas ist die Carlo-Mierendorff-Schule, eine integrierte Gesamtschule in Frankfurt am Main. Seit langer Zeit kennen sich beide Schulen gut, betreiben gemeinsame Schülerbegegnungsprojekte, vergleichen und diskutieren ihre gemeinsamen Probleme im Kontext unterschiedlicher Strukturen. Mittlerweile ist daraus eine trilaterale Zusammenarbeit mit einer vergleichbaren Schule in Birmingham entstanden.

Das "Collège Pythéas" ist strukturell eine Schule wie jede andere, also die in Frankreich einzig vorhandene Schulform auf der Sekundarstufe I. Sie liegt in den "Quartiers Nord" von Marseille, in einem sozialen Brennpunkt, wo viele aus Nordafrika stammende Einwanderer wohnen.
Die pädagogischen Angebote für die Schülerinnen und Schüler sind vielfältig. Einige liegen außerhalb der Schulzeit, entweder in der Mittagspause oder nach 17 Uhr. Zudem finden Exkursionen statt und in den Ferien werden Sportaufenthalte angeboten.
Außerdem gibt es an der Marseiller Schule eine besondere, gewaltpräventive Einrichtung. Zwei Mal in der Woche haben die Schüler der 5. und 6. Klassen entsprechende Aktivitäten, meist Sport oder Theater, nachmittags, statt des regulären Unterrichts. Durch diese Aktivitäten soll das Lernverhalten der Schüler und Schülerinnen positiv beeinflusst werden. In diesem Rahmen bestehen auch Vereinbarungen mit mehreren Stadtteilvereinen, die Animateure zur Verfügung stellen.

Das Personal am "Collège Pythéas"
An der Schule arbeitet viel Personal, das in unterschiedlichen Funktionen tätig ist - nicht nur Pädagogen. Gegen die Pläne der Regierung, den Umfang dieses Personals an den Schulen drastisch zu reduzieren, bzw. es im Zuge der Dezentralisierung den Regionen zuzuordnen, gab es bereits heftige Proteste.
Am "Collège Pythéas" sind neben der Schulleiterin, einem Wirtschaftsleiter und den 35 Lehrerinnen und Lehrern folgende Personen beschäftigt:

  • Aufsichts- und Betreuungskoordinatorinnen, welche die Schüler in allen Fragen außerhalb des Unterrichts betreuen und die sämtliche Aufgaben der anderen Aufsichtspersonen, der"Surveillants", koordinieren. Gleichzeitig arbeiten sie eng mit den Lehrern zusammen, kümmern sich um die Ausbildung der Schülervertreter und betreuen entsprechende Gremien. Sie sitzen auch im Gremium, das über die Verteilung von Unterstützungsgeldern an hilfsbedürftige Schüler entscheidet.
  • Aufsichtspersonen, die Schüler außerhalb des Unterrichts oder bei Unterrichtsausfall beaufsichtigen. Die "Surveillants" kontrollieren auch am Schuleingang die Ein- und Ausgänge der Schüler. 
  • Hilfserzieher, die meist als zusätzliches Aufsichtspersonal eingesetzt sind.
  • Eine Dokumentalistin leitet das an jeder Sekundarschule vorhandene Centre de Documentation et d´Information (CDI). Sie ist von der Ausbildung und dem Status her den Lehrern gleichgestellt. Das CDI ist eine Kombination aus Bibliothek, Dokumentationszentrum, Ausstellungsraum und Schularchiv. Außerhalb des Unterrichts können die Schüler dort ihre Zeit verbringen. Unter der Anleitung der Dokumentalistin erledigen sie Schulaufgaben und können für den Unterricht recherchieren.
    Das CDI ist von Montag bis Freitag von 8 Uhr bis 17 Uhr geöffnet.
  • Nur an einigen Tagen in der Woche arbeiten im "Collège Pythéas" zwei Sozialarbeiterinnen, eine Krankenschwester und eine Berufsberaterin.

Französische Kritik am Schulsystem und neue Ansätze
Diskussionen und Kritik beziehen sich in Frankreich vor allem auf das Verhältnis von Schule, Familie und Berufsleben. Im Gegensatz zu Deutschland wird die innere Zeitstruktur kritisiert. Nicht zur Debatte steht, dass Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag in der Schule sind. Es geht darum, wie sie diese Zeit im Sinne eines befriedigenden, erfolgreichen Lernens verbringen. Die mit der Gründung der republikanischen Schule festgelegte externe Zeitstruktur (Ganztagsschule) genießt nach wie vor hohe Akzeptanz und erweist sich trotz wesentlicher gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Veränderungen als erhaltenswert und zeitgemäß. Es bestehen auch keine ideologischen Bedenken gegen den großen Raum, den Schule im Leben der Kinder und Jugendlichen einnimmt. Diesem prinzipiellen Vertrauen gegenüber Schule kommt, gewissermaßen als Gegenleistung von staatlicher Seite, die hohe Verlässlichkeit der durch Schule angebotene Bildung und Betreuung entgegen. In der französischen Wahrnehmung von Schule ist das Bildungsangebot nicht von der Betreuungsfunktion zu trennen.
Gefordert wird hingegen mehr Zeit für die Familie am Wochenende, also der freie Sonnabend und stattdessen Unterricht am Mittwochvormittag sowie häufigere Regenerationsphasen statt verhältnismäßig langer Sommerferien.

Neue Ansätze zur Rhythmisierung von Unterricht, flexiblere Zeitverläufe während des Schultages liefert das innovativen Konzept von Aniko Hústi vom "Institut National de la Recherche Scientifique". Ihr geht es um eine Veränderung und eine Verbesserung des Lernens in der Schule durch ein aktives und differenziertes Zeitbewusstsein und -management seitens der Akteure (Lehrer und Schüler). Das Verdienst von Aniko Hústi ist es, über die Kritik am französischen Schulsystem hinaus - wobei sie das Prinzip einer Ganztagsschule für unverzichtbar hält  - die grundlegende Funktion der Zeitsozialisation Schule herausgearbeitet zu haben. Zeit soll nicht mehr als Sachzwang, sondern als autonom steuerbare Variable pädagogischen Handelns wahrgenommen werden.

Die ausführliche Fallstudie finden Sie in unserer Internet-Bibliothek.


Dr. Christian Alix, Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), ist in Frankreich geboren und lebte dort bis zu seinem 26. Lebensjahr. Seit 30 Jahren lebt und arbeitet er in Deutschland und hatte bisher  in verschiedensten Konstellationen und Funktionen mit Pädagogik zu tun.



 

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 14.08.2003
© Innovationsportal

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