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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 19.05.2003:

Zukunftskurs oder Zusammenprall mit Verfassung?

Große Berufsschulzentren sollen Schüler fit für den Arbeitsmarkt machen

Neuland in Sicht
"Natürlich ist es der Wunsch eines jeden Bootsbauers, an Neubauten zu arbeiten. Jedoch nehmen Instandsetzungs- und Überholungsarbeiten einen großen Raum seiner Tätigkeiten ein." So steht es im Ausbildungsprofil für Bootsbauer der Gewerbeschule Werft und Hafen G7 in Hamburg. Die Hamburger Behörde für Bildung und Sport plant seit längerem die Neubildung des Berufsschulwesens. Nun hat die Behörde Mitte April 2003 Schulleiterinnen und - leiter von 48 Berufsschulen des Stadtstaates über die neue Eigenständigkeit und Verantwortung der Anstalten informiert. Im Kern geht es darum, die Berufsschulen näher an die Wirtschaft heranzuführen und die staatliche Verantwortung zu lockern.

Den Zukunftskurs der Beruflichen Schulen soll eine öffentlich-rechtliche Stiftung bestimmen - die Stiftung Berufliche Schulen Hamburg (SBHS). Der Zweck der Stiftung ist es, "mehr Hamburger Betriebe zur Berufsausbildung zu bewegen", so die Behörde für Bildung und Sport in ihrer Pressemeldung vom 15. April 2003, "das schafft Lehrstellen". Um das Ziel zu erreichen sollen die Schulen eigenverantwortlicher arbeiten können, inhaltlich, organisatorisch und finanziell.

Eine kleine Revolution bahnt sich an: Der Staat teilt die Verantwortung für die Berufsschulen systematisch mit der Hamburger Wirtschaft. Bisher hat das Land die Aufsicht über die Schulen zu verantworten und nicht die Wirtschaft, schließlich kommt das Land auch für die Kosten seiner Berufsschulen auf. Der Rumpf des Berufsschulwesens, sein tragendes Element, wird mit einem Stiftungsmodell komplett neugebaut.

Berufsschulen: Wirtschaft und Staat gemeinsam am Steuerruder
Ein für die Lehrerinnen und Lehrer unvertrauter, vielleicht rauerer Wind wird möglicherweise in der Stiftung Berufliche Schulen Hamburg wehen. Der Wind der permanenten Veränderungen, für den die Wirtschaft immer eher offen ist als die Schulen.

Die Stiftung wird drei Ebenen haben:

1. Vorstand
2. Kuratorium
3. Lenkungsausschuß

Behörden- und Wirtschaftsführer werden Platz im Vorstand der Stiftung nehmen. Sie wird einen kaufmännischen und einen pädagogischen Leiter haben. An ihrer Seite sitzen ehrenamtliche Mitglieder der Hamburger Wirtschaft. Der Vorstand muss stets einstimmig entscheiden. Er schließt "Kontrakte" mit den Berufsschulen.

Das Kuratorium, eine beratende und kontrollierende Instanz, setzt sich aus zehn Vertretern der Wirtschaft und zehn Vertretern der Landesbehörden zusammen - Bildungsbehörde, Wirtschaftsbehörde, Finanzbehörde. Nach Informationen vom Deutschen Lehrerverband Hamburg, DLH, haben die Wirtschaftskapitäne ein Vetorecht. Dem steht das Doppelstimmrecht der Vorsitzenden der Bildungsbehörde gegenüber. Durch das Instrument des Doppelstimmrechts ist in den Augen der Behörde für Bildung und Sport gewährleistet, dass der Staat die Aufsicht über das Schulwesen nach Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes weiterhin wahrnimmt. Artikel 7 Absatz 1 lautet: "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates."
 
Darunter befindet sich der Lenkungsausschuß der Berufsschulen. Die 48 Berufschulen werden zu 15 bis 20 großen Berufsschulzentren verschmolzen, nach der Maßgabe ihrer Branchenzugehörigkeit. Hier sitzen Vertreter der Betriebe und Branchengewerkschaften zusammen. Für Berufsschulen der Schifffahrtsbranchen bedeutet dies, dass etwa Reedereien und die Gewerkschaft ver.di im Lenkungsausschuß eines Berufsschulzentrums zusammensitzen könnten, die nach Informationen des Deutschen Lehrerverbandes ein "Vetorecht im operativen Bereich" haben werden.

Die Devise für die Stiftungsarbeit formuliert Bildungssenator Rudolf Lange, FDP so: "Wir werden aber soviel Kompetenzen wie möglich an die branchenorientierten beruflichen Schulen übertragen, damit vor Ort mit verstärkter Hilfe der Hamburger Wirtschaft eine noch praxisorientiertere Ausbildung möglich ist."

Und die Hamburger Wirtschaft ist schon länger gewillt, dieser Devise nachzukommen, wenn sie in einem Grundsatzpapier vom 25. Oktober 2002 den Leitsatz ausspricht: "Die Wirtschaft trägt die Hauptverantwortung für das Duale System." Sechs Wirtschaftsverbände holt die Bildungsbehörde ins Boot:

  • Unternehmensverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung e.V.
  • Handelskammer Hamburg
  • Handwerkskammer Hamburg
  • Landesverband des Hamburger Einzelhandels e.V.
  • Nordmetall - Verband der Metall- und Elektroindustrie e.V.
  • Vereinigung der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein

Diese Organisationen wollen die Attraktivität der Berufsschulen steigern und zeichnen mit dem Umriss der "branchenorientierten Schule" das Bild einer "neuen Berufsschule",  nachzulesen im Umsetzungsentwurf der Hamburger Wirtschaft vom 25. Oktober 2002. So sollen mehr junge Lehrer und neue Lehrkräfte mit "professionellen Personalentwicklern" rekrutiert werden und Schulleiter werden als Manager wirken. Auch sollen Lehrer in der "betrieblichen Praxis weitergebildet" werden: Lehrende als Lehrlinge der Wirtschaft. Und Berufliches Praxiswissen wird hoch gehandelt - "betriebliche Experten" sollen als Lehrer in den Schulen arbeiten.

Anonyme Schulkomplexe
Überschaubare Schulen mit ca. 1000 Schülerinnen und Schüler könnten bald der Vergangenheit angehören, die Zukunft sieht die Bildungsbehörde in großen Schubverbänden, Berufsschulzentren mit bis zu 4000 Schülern. Heinz Fänders, Direktor der Staatlichen Berufsschule für Schifffahrts- und Reiseverkehrsleute erläutert wie die neuen Berufsschulzentren funktionieren könnten. Die Berufsschule für Schifffahrts- und Reiseverkehrsleute kann aufgrund der Branchenzugehörigkeit mit der Staatlichen Gewerbeschule Werft und Hafen und der Berufsschule für Logistik, Spedition und Verkehrsservice verschmelzen. Die Achse, um die sich die drei beruflichen Schulen drehen, ist diesem Fall der Verkehr.

Nach Fänders überwiegen die Vorteile für die beruflichen Schulen. Durch die Verschmelzung mehrerer Berufsschulen zu Berufsschulzentren entstünden Synergien: Bessere Nutzung des Know-hows der Lehrerinnen und Lehrer, gegenseitige "Befruchtung durch verschiedene pädagogische Ansätze" und effektivere Gestaltung des Vertretungsunterrichts. Der Direktor kann auch keinen "Dissens" zwischen der Wirtschaft und dem Auftrag der Schulen erkennen, Allgemeinbildung zu fördern.

Er verweist auf den Politikunterricht an der Schule für Schifffahrts- und Reiseverkehrleute. Seit 15 Jahren pflegt die Schule einen Politikunterricht, der bei speziellen Fragestellungen der Schifffahrtspolitik ansetzt: Das Ausflaggen von Schiffen, Freiheit der Meere, Sicherheit auf See böten genug Gelegenheit, die großen Linien der Politik, etwa den Nord-Süd-Konflikt zwischen dem reicheren Norden und dem ärmeren Süden nachzuzeichnen. Am Beispiel der Schifffahrtspolitik ließen sich die grundlegende Strukturen der Politik gut illustrieren.

Pulverfass: Berufschulzentrum
Im Gebälk des neuen Hamburger Berufsschulmodells stecken einige Pulverfässer. Die Vorsitzende der GEW Hamburg, Stephanie Odenwald, deutet die Schulreform der Bildungsbehörde als "Krieg der Arbeitgeber". Sie zitiert den Präsidenten der Handelskammer Hamburg Karl-Joachim Dreyer mit den Worten: "Es ist Zeit für einen marktwirtschaftlichen Befreiungsschlag". Unternehmen und Wirtschaft wollten "den Unterricht verschlanken": Allgemeinbildung würde "eliminiert". Das bedeutet, bis zu 60 Prozent der Jugendlichen würden von der Allgemeinbildung ausgeschlossen. Vollzeitschulformen wie die Fachoberschule wollten Bildungssenatoren und Wirtschaft "loswerden", sie sind ihnen "lästig". Die Schulen sollten letztendlich privatisiert werden.

Im Stiftungsvorstand sitzt, so Odenwald, eine Mehrheit der Wirtschaftsvertreter mit Vetorecht. Bildungsbehörde und Wirtschaft könnten sich gegenseitig lahm legen: Es steht Vetorecht gegen Doppelstimmrecht. Die Berufsbildungszentren seien "Massenanstalten und Lernfabriken", die zur Anonymität zwischen den Schülern führe. Die pädagogische Arbeit werde leiden und steuerbar seien die großen Einheiten ohnehin kaum. 

Der Deutsche Lehrerverband Hamburg fragt in der Presseerklärung vom 15. April 2003: Wie kann man einer Wirtschaft die Verantwortung übertragen, die selbst keine Lehrstellen anbiete. Es fehlten in Hamburg über 3000 Ausbildungsstellen. Die Stiftungs-Architektur sei verfassungswidrig, denn die "bisher wohlweislich geheimgehaltenen Pläne des Senators hebeln durch den erheblichen Einfluss der Wirtschaftsfunktionäre die Staatsverantwortung aus." Die pädagogische Unabhängigkeit dürfe nicht angetastet werden, dies sei nur mit "beamteten Lehrkräften" gewährleistet, da sie die Interessen der Schülerinnen und Schüler langfristig berücksichtigten.

Stephanie Odenwald fordert die Bildungsbehörde auf, das neue Trägermodell der Berufsschulen in Hamburg zurückzunehmen. Die Schüler fit für den Arbeitsmarkt machen zu wollen, reiche nicht aus. Sie befürchtet, dass die gesellschaftspolitische Kompetenz zu kurz kommt. Konservativ sei das Menschenbild, das hinter dem Stiftungsmodell mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler lediglich fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Die Schüler würden "auf ihre Arbeitskraft reduziert".

Den Widerstand der Lehrerkollegien gegen die Reformen erklärt sich der Leiter der Behörde für Bildung und Sport, Alexander Luckow, aus der politischen Vergangenheit Hamburgs heraus. Für die sozialdemokratische Machtelite ist die Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP ein "Betriebsunfall der Demokratie". Viele Berufsschullehrer und Lehrer in Hamburg seien Sozialdemokraten. Das Ausmaß der öffentlichen Aufregung zeige, dass die Behörde den wunden Punkt des Systems getroffen habe.

Fazit: Der Wirtschaft wird mit dem Stiftungsmodell viel geholfen, der demokratischen Schulkultur schon weniger.  

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 19.05.2003
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