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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 24.04.2003:

"Das gesamte System gehört auf den Prüfstand", Teil 1

Rollentausch: Fünf Journalisten über die Reform im Bildungssystem

Heute und in der kommenden Woche veröffentlichen wir Interviews mit einer Journalistin und vier Journalisten. Lesen Sie heute die Interviews mit Jeanne Rubner von der Süddeutschen Zeitung und Jochen Leffers vom Spiegel.

Wir haben folgende Fragen gestellt:

  1. Bildungsthemen sind seit Jahren wichtiger Bestandteil Ihrer Berichterstattung. Worüber hätten Sie dabei gern öfter berichtet? 
  2. Was hat PISA für den Reformprozess im Bildungsbereich gebracht und benötigen wir weitere "PISA-Schocks"?
  3. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Arbeit und die Ergebnisse des Forum Bildung?
  4. Als Bildungsjournalist/in beobachten Sie die Reformbemühungen im Bildungsbereich sehr genau. Was müsste sich in Bund und Ländern als Erstes ändern, um grundlegende Verbesserungen zu erreichen?
  5. Welchen Ratschlag möchten Sie Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern ins Stammbuch schreiben?


Jeanne RubnerJeanne  Rubner

Bildung PLUS: Bildungsthemen sind seit Jahren wichtiger Bestandteil Ihrer Berichterstattung. Worüber hätten Sie dabei gern öfter berichtet?

Rubner: Mit Sicherheit über Schulen, über ihre Probleme und Reformbemühungen. Schulen sind in der Berichterstattung über Bildung bislang zu kurz gekommen, der Schwerpunkt lag in vielen Printmedien - auch in der Süddeutschen Zeitung - bei Themen aus den Hochschulen. Dabei haben zahlreiche Leser Kinder im schulpflichtigen Alter - sie interessieren sich deshalb sehr für Themen rund um die Schule.

Bildung PLUS: Was hat PISA für den Reformprozess im Bildungsbereich gebracht und benötigen wir weitere "PISA-Schocks"?

Rubner: Ohne PISA hätten wir keine Debatte über die Qualität der Schule. Die Mathematikstudie TIMSS hatte zwar bereits einen Anstoß gegeben, der jedoch nicht gereicht hatte, um das öffentliche Interesse zu wecken. Ich glaube nicht, dass wir weitere PISA-Schocks brauchen, denn jetzt ist das Bewusstsein vorhanden, dass eine gute Schule eine wesentliche Grundlage für das Funktionieren der Gesellschaft ist. Ich hoffe auch nicht, dass es zu weiteren PISA-Schocks kommen wird. Denn das würde bedeuten, dass sich hierzulande nichts gebessert hat.

Bildung PLUS: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Arbeit und die Ergebnisse des Forum Bildung?

Rubner: Das Forum Bildung hat gute Arbeit geleistet. Schon vor PISA hat es die wesentlichen Schwachstellen des deutschen Schulsystems entlarvt - insbesondere die mangelnde Frühförderung, die mangelnde sprachliche Förderung von Ausländerkindern und die fehlende Ganztagsbetreuung. Leider hat das Forum Bildung nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die es verdient hätte - vielleicht ist es zu leise aufgetreten? Vielleicht ist es ja auch langweilig, wenn Politiker sich ausnahmsweise einmal einig sind.

Bildung PLUS: Als Bildungsjournalistin beobachten Sie die Reformbemühungen im Bildungsbereich sehr genau. Was müsste sich in Bund und Ländern als Erstes ändern, um grundlegende Verbesserungen zu erreichen?

Rubner: Unser Schulsystem krankt daran, dass es international gesehen schlechte Leistungen hervorbringt und sozial ungerecht ist. Wenn man nur eine große Reform anstoßen wollte, müsste man die Ganztagsschule für alle einführen. Ganztagsschulen führen zu mehr Chancengleichheit, weil sie alle Kinder gleichermaßen fördern. Sie geben den Schülern mehr Zeit zum Lernen und zum Vertiefen des Stoffs. Schließlich lässt sich an Ganztagsschulen ein besseres Schulklima erreichen. Wenn Lehrer und Schüler mehr Zeit miteinander verbringen und so ein Vertrauensverhältnis aufbauen, dann kann die Schule wieder zu einem Lebensraum werden, wo Kinder und Jugendliche gerne hingehen und lernen.

Bildung PLUS: Welchen Ratschlag möchten Sie Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern ins Stammbuch schreiben?

Rubner: Der Föderalismus ist zu einem Hemmschuh in der Bildungspolitik geworden. Leider wird man ihn nicht abschaffen können, dafür aber müssen die Länderminister endlich schneller gemeinsam handeln. Und sie müssen sich lautstark gegen die ständigen Kürzungen ihrer Etats wehren.

 

Jochen LeffersJochen Leffers

Bildung PLUS: Bildungsthemen sind seit Jahren wichtiger Bestandteil Ihrer Berichterstattung. Worüber hätten Sie dabei gern öfter berichtet?

Leffers: Aus dem Campus- und Schulalltag. Bildungsthemen aus der engen Perspektive der klassischen Bildungspolitik in Bund und Ländern finden in den Medien reichlich statt, schon weil die Berichterstattung sich vorwiegend auf die dürren Meldungen der Nachrichtenagenturen stützt - also in einer erdfernen Umlaufbahn kreist. Was Studenten und Schüler, Lehrer und Professoren wirklich bedrückt, geht häufig unter. Und dabei geht es fast nie um winzige Verbesserungen durch jene schmucken neuen Pilotprojekte, mit denen Bildungspolitiker sich so gern selbst feiern. Am schier endlosen Gezerre um Stellenabbau, Bafög und Studiengebühren, Schulsysteme kommt man als Journalist natürlich nicht vorbei. Aber "wichtig ist auf'm Platz", weiß jeder Fußballer. Der Platz: In der Bildung ist das der Hörsaal und Seminarraum, das Klassen- und Lehrerzimmer.

Bildung PLUS: Was hat PISA für den Reformprozess im Bildungsbereich gebracht und benötigen wir weitere "PISA-Schocks"?

Leffers: Shocking? Für Bildungsexperten kam das Pisa-Fiasko nicht wirklich überraschend. Aber selbstverständlich brauchen wir Pisa- und andere "Schocks" (bitte auch an den Hochschulen). Damit schaffen Bildungsthemen den Sprung von den hinteren Seiten der Tageszeitungen in die Schlagzeilen. Damit werden Lehrer, Rektoren und Professoren, die sich schon vor vielen Jahren einen bequemen Platz an der Klagemauer gesucht haben, aufgeschreckt. Damit werden auch Schüler und Studenten aus ihrer Duldungsstarre gerissen. Damit kommt endlich frischer Wind in die verschlafenen Schulen und Hochschulen. Und vielleicht löst sich die Bildungspolitik sogar allmählich von ihrem Leitmotto "Viel Gesabbel, wenig Getue".

Bildung PLUS: Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Arbeit und die Ergebnisse des Forum Bildung?

Leffers: Das "Forum Bildung" habe ich zunächst mehr aus den Augenwinkeln wahrgenommen, in erster Linie über Pressemitteilungen und über die Webseite (die sich ein Online-Redakteur, kleine déformation professionelle, natürlich besonders interessiert anschaut). Und dort habe ich häufig präzise Zusammenfassungen der Bildungsdebatten und lebendige Interviews entdeckt - als Hintergrundinformationen für die tägliche Arbeit hilfreich. Auch die Empfehlungen des Forums Bildung halte ich für durchaus lesenswert. Noch mehr interessiert mich allerdings, wann die salbungsvollen Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Bestandsaufnahmen, Kommissionsberichte und weise Ratschläge füllen viele Meter Aktenordner. Nur, siehe oben: Wichtig ist auf'm Platz.

Bildung PLUS: Als Bildungsjournalist beobachten Sie die Reformbemühungen im Bildungsbereich sehr genau. Was müsste sich in Bund und Ländern als Erstes ändern, um grundlegende Verbesserungen zu erreichen?

Leffers: Darf's konkret sein?
Bei Bund und Ländern: Schluss mit dem Kompetenzgerangel, zusammen statt gegeneinander arbeiten. Und, natürlich, Schulen wie Hochschulen angemessen ausstatten.
An den Hochschulen: Beamtenstatus abschaffen. Professoren mit Lehr-Allergie zur persönlichen Anwesenheit verpflichten und Drückebergertum verhindern. Evaluationen nur umsetzen, wenn sie auch ernsthafte Folgen zeitigen. Die lähmende Studiengebühren-Debatte erst dann fortsetzen, wenn die Probleme der Studienfinanzierung und -organisation gelöst ist. Die lächerlich schlechte Ausbildung in den Studiengängen mit Staatsexamina (Lehramt, Jura, Medizin) runderneuern. In den Gesellschaftswissenschaften das Grundstudium straffer gestalten und im Hauptstudium Freiheiten lassen; in den Natur- und Ingenieurwissenschaften kein Trümmerwissen vermitteln. In allen Fächern stärkere Praxisbezüge. Die Studenten besser fördern, aber auch mehr fordern. Studienabbrüche durch bessere Betreuung verhindern. Bachelor- und Masterabschlüsse auch gegen den Widerstand der Traditionalisten umsetzen. Für eine bessere Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern sorgen, vor allem in der Lehre. Und vieles mehr.
An den Schulen: Ebenfalls Beamtenstatus abschaffen. Die gemeinsame Schulzeit über die vierjährige Grundschule hinaus verlängern. Deutschland als Einwanderungsland erkennen und Migrantenkinder fördern. Die Grundschulen aufwerten und stärker finanziell unterstützen, und sei es zu Lasten der Gymnasien. Mehr Durchlässigkeit zwischen den Schultypen. Diagnostische Kompetenz bei Schulempfehlungen stärken. Lehrerforderungen nach höheren Gehältern konsequent ignorieren, künftig Engagement statt dienstlich unauffälliges Altern belohnen. Ein gerechtes Arbeitszeitmodell schaffen, in das außerunterrichtliche Aktivitäten einfließen. Sofort die Lehrerausbildung reformieren - Kandidaten sorgfältiger auswählen, früher in die Praxis; nicht im Referendariat so lange auf Linie trimmen, bis sie jede Kreativität und jeden Elan verloren haben. 45-Minuten-Takt beenden, alle Gongs demontieren. Projekte und Praxis statt Frontalunterricht. Lebensnähere Wissensvermittlung vor allem in den Naturwissenschaften.

Bildung PLUS: Welchen Ratschlag möchten Sie Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern ins Stammbuch schreiben?

Leffers: Vor allem einen: Reden Sie gelegentlich MIT Schülern und Studenten, nicht nur ÜBER sie.

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 24.04.2003
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