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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 13.03.2003:

Bärenstark oder Bärendienst für die Förderung

Zahlen für professionelle Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund
Das Bild zum Artikel
Dr. Sven Walter - Quelle: Forum: Sprachstandserhebungen Pro und Kontra

Vom Nutzen einer Sprachstandserhebung: "Bärenstark"
So nützlich wie umstritten: Sprachstandserhebungen zur professionellen Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Nützlich sind solche Erhebungen, weil viele Kinder nicht über die notwendigen sprachlichen Fähigkeiten verfügen, die Voraussetzung für die Einschulung sind. Hier liefern sie Daten, um Aussagen über die durchschnittliche Sprachkompetenz von Kindern machen zu können.

Auf dieser Grundlage kann die Schulverwaltung Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen fällen: "Was wir brauchen ist ein Beweis für die Finanzierung", sagt Ulrike Grassau, Senatsverwaltung Berlin. Außerdem wird aufgrund des Materials der Erhebung die Sprachförderung für die Kinder konzipiert und die Ausbildung von Erzieherinnen und LehrerInnen reformiert. In der Hauptstadt ist das Pionierprojekt Bärenstark vor drei Jahren, 1999-2000, entwickelt worden.

Von Praktikern für Praktiker?
Solche praktisch orientierten Sprachstandserhebungen können von den PädagogInnen an Kindergärten und Grundschulen selbst durchgeführt werden. Vergleichsweise wenig Personal ist zur Durchführung erforderlich im Unterschied zu standardisierten Verfahren, die wissenschaftliche Begleitung benötigen. "Von einem großen Teil der Praktiker, nämlich den Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern wird Bärenstark definitiv befürwortet. Von einem Teil aus dem Wissenschaftsbereich wird Bärenstark vehement abgelehnt. Diese Diskrepanz ist interessant", sagt Andreas Pochert Koordinator von Bärenstark.

Die Bedeutung des Verfahrens nimmt zu: Im Januar 2003 ist Bärenstark mit allen Berliner Schulanfängern durchgeführt worden: 27.000 Kinder. Andere Bundesländer, etwa Niedersachsen machen Anleihen aus dem Programm. Nach Sven Walter, Institut für kreative Sprachförderung und interkulturelle Kommunikation, ist mit dem Verfahren nun eine "gezieltere Ressourcenverteilung als vorher möglich". Und durch die Ergebnisse der Sprachstandserhebung sei die Debatte über die Sprachförderung in Bewegung gekommen in Berlin und über Berlin hinaus.

"Setze den Bären auf den Tisch"
Bärenstark hat den Anspruch auf der "ganzheitlichen Kommunikation der Kinder" aufzubauen: Anhand eines knuffigen Teddybärs werden die Kinder spielerisch durch den Sprachtest geführt, der zwischen 20 und 30 Minuten dauert. Das Sprachstandserhebungsverfahren gliedert sich in vier Aufgabenbereiche für die anteilig Punkte vergeben werden:

- Einführung der Leitfigur: Der Bär
- Erzählbild / 5-Teile-Puzzle
- Bildpaare
- Agieren mit dem Bären im Raum - etwa: "Setze den Bären auf den Tisch"

Höchstens 100 Punkte können erreicht werden, bei weniger als 60 Punkten ist "intensiver Förderbedarfs" angesagt. Nach dem Motto "Früher ist besser" wird Bärenstark vermehrt mit Kindern im vorschulischem Bereich durchgeführt. So setzten inzwischen 1200 Kinder ab vier Jahren in 80 Kindertagesstätten den Teddy auf den Tisch. Dabei spielen die Punkte eine nachgeordnete Rolle, Förderprofile werden textlich erstellt.

Der Bär tanzt
Mit dem Bären kam bald heftige Kritik von Seiten der Wissenschaft auf den Tisch: Nach Anette Kracht, Universität Hamburg, handelt es sich bei dem Berliner Verfahren um eine "Feststellungsdiagnostik". Doch Diagnostik im Sinne der Schulorganisation sei problematisch. Sprachdiagnostik müsse der Förderung dienen, nicht der Verteilung von Ressourcen, von Geld und Personal. "Feststellungsdiagnostik reicht nicht aus", nur mit so genannter "verstehender Diagnostik" könnten Kinder individuell gefördert werden. Die Normen der Schulen stünden im Widerspruch zu einer personalen Orientierung. Eine einheitliche Grundlage für die Konzeption von Sprachstandsverfahren gibt es nicht. Jedes Land kocht sein eigenes Süppchen. Eine "Gesamtlösung" müsse erreicht werden, so Kracht.

Bärenstark wird zudem vorgeworfen, willkürlich Sprachmaterial abzurufen, das nicht an dem Stand der Sprachentwicklungsforschung bei Kindern angelehnt ist. Nach Ingrid Gogolin, Universität Hamburg, spielten Präpositionen im Verfahren lediglich deswegen eine so große Rolle, weil türkische Kinder mit Präpositionen in ihrer Muttersprache nicht vertraut seien, wie: "unter  den Tisch", "auf den Tisch".  Insofern sei die Auswahl des Sprachmaterials naiv, es gebe Kinder aus anderen Herkunftsländern, die keine Lernschwierigkeiten mit Präpositionen haben wie türkische Kinder.

"Das Deutsch der Schule" plus Zweitsprache
Bärenstark fragt nach dem Sprachstand der Kinder in Deutsch. "In Deutschland wird auf die Zweisprachigkeit im Bildungsprozess wenig Rücksicht genommen", sagt Gogolin. Und wer die Sprache im Elementar- und Grundschulbereich fördern wolle, müsse sich fragen, was gefördert werden solle. Ausschlaggebend für den Lernerfolg in der Schule ist nicht Deutsch als Alltagssprache, sondern "das Deutsch der Schule" und darauf könne nur eingeschränkt vorbereitet werden.

Gute Sprachstandstests zeichnen sich nach Gogolin dadurch aus, dass sie den Kriterien der so genannten Psychometrie, wie z.B. der Objektivität, Gültigkeit und Zuverlässigkeit standhielten. Merkmale guter Verfahren sind:

- sie geben die ganze Breite des so genannten "sprachlichen Materials" wieder
- sie berücksichtigen die Kindersprache
- sie erkennen die Zweisprachigkeitsforschung an

Wer das Schuldeutsch fördern wolle, müsse darauf achten, dass die Fördermaßnahmen langfristig und kontinuierlich durchgeführt werden. Dieses Deutsch, "spezifische Sprache der Schule", muss im gesamten Curriculum gestärkt werden. Und auch die Zweisprachigkeit muss gefördert werden. In der Erst- und in der Zweitsprache muss der Zugang zur Schrift erschlossen werden. Gogolin: "Modelle, die Zweisprachigkeit fördern, sind denen überlegen, die nur eine Sprache fördern".

"Bärenstark" zersaust
Nach der engagierten Kritik war Bärenstark zersaust: "Bärenstark ist kein standardisiertes Verfahren und kann es auch nicht sein. Bärenstark wurde entwickelt, um die Deutschkenntnisse aller Kinder zu überprüfen. Es kann immer weiter verbessert werden, aber es wird den Standardisierungskriterien nicht entsprechen können, das war von vorneherein klar. Die Frage ist, ob ein standardisiertes Verfahren das Allheilmittel sein wird. Das stelle ich definitiv in Frage", sagt Andreas Pochert, Koordinator von Bärenstark.

Nach dem "Bärenstarkschock" wird das Verfahren überarbeitet: "Für Berlin würde ich sagen: Wir werden Teile von Bärenstark sehr verändern. Es geht nicht darum zu sagen, wir waren die ersten, sondern zu sagen: Was kommt dabei heraus? Was bringt uns Bärenstark für die Förderung", sagt Ulrike Grassau, Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, Berlin. Anregungen hat Grassau von Niedersachsen erhalten, das mit Bausteinen von Bärenstark arbeitet. Grassau weiter: "Sobald wir merken, dass ein Kind altersgemäß Deutsch spricht, würde ich es aus dem Verfahren herausnehmen. Ein Kind, das überhaupt kein Deutsch spricht und keine Chance hat, den Test zu bestehen würde ich auch herausnehmen."

Zwischen den Mühlsteinen
Offenbar bewegt sich die Schulverwaltung Berlin auf die Erwartungen der Praktiker zu, die "eher Förderdiagnostik wünschen", wie Stefan Jeuk, PH Ludwisgsburg und Moderator der Arbeitsgruppe "Sprachstanderhebungen Pro und Kontra" festgestellt hat. Ein länderübergreifendes Konzept scheint die Vernunft zu gebieten: "Es ist in unserem Interesse, dass es bundesweite Richtlinien gibt für das Thema Sprachstandserhebung und Sprachförderung. Auch wenn dies bedeuten wird, dass Bärenstark sich nicht durchsetzen würde", sagt Andreas Pochert.

Auch Marcella Heine, Kultusministerium Niedersachsen, spricht sich für "länderübergreifende minimale Qualitätskriterien" aus. Darüber hinaus sieht sie einen Bedarf für nationale Bildungsstandards für Deutsch als Zweitsprache. Doch solche Vorschläge könnten zwischen den Mühlsteinen der Länder zermalmt werden: "Ich sehe schwarz dafür, Sprachstandserhebungen zu vereinheitlichen. Für einzelne Länder ist es ganz schwierig von ihrer Sache herunterzugehen", sagt Ulrike Grassau.

Da Erzieherinnen und Erzieher ohnehin gut einschätzen könnten, welchen Förderbedarf Kinder haben, plädiert Ingrid Gogolin dafür, das Geld nicht in die Entwicklung von Sprachstandsmessungen zu stecken, sondern gleich in die Sprachförderung.

Es bleibt abzuwarten, ob Nutzen oder wissenschaftliche Gültigkeit obsiegt. Oder die Synthese aus beidem - die Vernunft.

 

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 13.03.2003
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