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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 23.01.2003:

Der Staat als Pädagoge

Frankreichs Ganztagsschulen haben eine lange Tradition

Seit der Pisa-Studie schauen deutsche Bildungspolitiker gerne nach Frankreich, denn dort hat die Ganztagsschule Tradition - und das durchgängig von der Vorschule bis zum Gymnasium. Das merkt man schon daran, dass im Französischen gar kein Wort für Ganztagsschule existiert - eine kulturelle Selbstverständlichkeit eben. Doch oft vergessen deutsche Politiker, die Frankreich loben, dass diesseits und jenseits des Rheins das Verständnis von Schule und Erziehung weiter auseinander liegt als der Fluss, der beide Länder trennt. In Frankreich versteht sich der Staat aus republikanischer Tradition als Pädagoge, der für die Erziehung seiner Kindern verantwortlich ist. Betreuung über den ganzen Tag, ein verbrieftes Recht der Eltern auf einen Vorschulplatz und Gebührenfreiheit sind die Regel. "Dieses System ist so selbstverständlich, dass der Versuch, einem Franzosen die deutsche Diskussion um verlässliche Öffnungszeiten zu erklären, hoffnungslos zum Scheitern verurteilt ist", erklärt Dr. Christian Alix, Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), im Interview mit Bildung PLUS.

Das zentralisierte Schulsystem mit einheitlichen Prüfungen, Lehrplänen und Schultypen ist mehr als politisches denn als pädagogisches Konzept zu verstehen - die Schule soll Kinder denn auch im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu Franzosen erziehen. Die Ganztagschule wurde Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt, um den Einfluss der Katholischen Kirche einzudämmen und gilt als Grundstein des laizistischen Staates. Die Struktur ist im Grunde bis heute gleich geblieben: Mit zwei oder drei Jahren kommen die Kinder in die Vorschule, die école maternelle, mit sechs Jahren in Grundschule und mit elf in das college unique, eine Gesamtschule. Dort entscheidet sich auch, wer eine Lehre und wer Abitur macht.

Die école maternelle, in die über neunzig Prozent der Dreijährigen gehen, gilt als Hort der Chancengleichheit, weil dort soziale Benachteiligungen durch eine gezielte Förderung kompensiert werden können. So sollen vor allem kulturelle Techniken und individuelle Kreativität eingeübt und gefördert werden. Luc Ferry, der französische Erziehungsminister, zeigt sich deshalb in einem Interview mit der Zeit auch sehr stolz: "Unsere zweite Stärke ist die Vorschule für die ganz Kleinen im Alter von drei bis fünf Jahren".  Kein Zweifel, dass Frankreich in diesem Bereich eine Vorreiterrolle in Europa innehat. Doch in der frühkindlichen Förderung finden sich ein paar Körnchen, die das Gesamtbild trüben: So haben Studien ergeben, dass die Vorschule sich zwar positiv auf die Entwicklung von Kindern allgemein und sozial Benachteiligten im Speziellen auswirkt, doch diese Effekte würden sich nach dem Wechsel in die fünfjährige Grundschule und spätestens mit dem Eintritt in die Sekundarstufe, das College Unique, verlieren. Dann schlagen die höheren Anforderungen, der soziale Hintergrund und das individuelle Bildungskapital wieder zu Buche.

Vor allem das College Unique schafft es nicht, Ungleichheiten auszumerzen, sondern fördert im Gegenteil Selektion und frühe Auslese. So werden lernschwache Schüler rein nach Leistung in berufsvorbereitende Kurse gesteckt und nur die guten Schüler haben die Chance auf Abitur und ein Hochschulstudium. "Frankreichs Schulen orientieren sich immer noch sehr stark an einer Bildungselite", sagt Christian Alix. Und ein französischer Staatssekretär für berufliche Bildung drückt es so aus: Das Einheitliche sei ein Mythos, einheitlich sei lediglich das Gebäude.   

Autor(in): Udo Löffler
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Datum: 23.01.2003
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