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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 20.09.2018:

„Fortschritt bei der Inklusion ist bescheiden“.

Studie „Unterwegs zur inklusiven Schule“ erschienen
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Bildrechte: Bertelsmann Stiftung

Die Studie „Unterwegs zur inklusiven Schule: Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive“, die Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt hat, bescheinigt Deutschland einen leichten Rückgang der Exklusion. Die Exklusionsquoten entwickeln sich in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich.


Schüler mit und ohne Förderbedarf sollen zusammen lernen. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben, mit der es sich zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet hat. Wie sieht es heute, knapp zehn Jahre später, aus? Was hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren in Sachen „Inklusion“ an den Schulen getan?
Am Montag, dem 3. September, ist die Studie „Unterwegs zur inklusiven Schule: Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive“ erschienen, in der Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm die Entwicklung des inklusiven Schulsystems in Deutschland zwischen dem Schuljahr 2008/09, in dem die UN-Konvention in Kraft trat, und dem Schuljahr 2016/17, für das die Kultusministerkonferenz die bislang aktuellsten Zahlen aus den Bundesländern veröffentlicht hat, analysiert.

Die Exklusionsquote

Zunächst einmal nimmt die Studie nicht, wie sonst üblich, die „Inklusionsquote“ in den Blick, sondern untersucht die „Exklusionsquote“. Die Inklusionsquote beschreibt, wie viel Prozent der Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf an einer Regelschule unterrichtet werden. Danach stieg der Inklusionsanteil von 18,4 Prozent im Jahr 2008 auf 39,3 Prozent im Jahr 2016. Klemm hält diese Zahlen allerdings nicht für aussagekräftig. Sie täuschten einen Fortschritt vor, den es so nicht gegeben habe, schreibt er in der Studie. Denn zum einen gebe es Bundesländer, die in den ersten Schuljahren inzwischen darauf verzichten, Schülern an Regelschulen formal Förderbedarf zu attestieren, zum anderen wird an vielen anderen Regelschulen bei einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Dies führe zu einer Unter- beziehungsweise Überschätzung des Inklusionsanteils. Deshalb entschied sich Klemm dafür, die Exklusionsquote ‒ der Anteil der in Förderschulen lernenden Schülerinnen und Schüler an der Gesamtschülerschaft ‒ in den Mittelpunkt seiner Analysen zu stellen. Sie sei der zentrale Indikator für den Stand bzw. Fortschritt des gemeinsamen Lernens von Schülern mit und ohne Handicap.

Sein Ergebnis: Die Exklusion geht bundesweit zurück. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in separaten Förderschulen lernen, nimmt ab. Gingen 2008 noch 4,9 Prozent aller Kinder auf eine Förderschule, waren es 2017 nur noch 4,3 Prozent. „Inklusion kommt an Deutschlands Schulen voran“, stellt Bertelsmann Vorstand Jörg Dräger fest. Doch „die Chancen von Förderschülern, eine Regelschule zu besuchen, hängen immer noch sehr vom Wohnort ab“, ergänzt er.

Unterschiedliche Entwicklungen in den Bundesländern
Die Exklusionsquoten entwickeln sich in den einzelnen Bundesländern nach wie vor sehr unterschiedlich. Die geringste Quote hat Bremen mit 1,2 Prozent, während Mecklenburg-Vorpommern (sechs Prozent) das Land bleibt, in dem anteilmäßig am häufigsten Kinder auf Förderschulen gehen. Doch beim Vergleich fällt auf: In Norddeutschland und den Stadtstaaten ist die Exklusionsquote besonders niedrig, auch in Ostdeutschland geht der Anteil der Kinder an Förderschulen zurück. In Nordrhein-Westfalen und Hessen gab es moderate Rückgänge, im Saarland nur kleine. Und die Exklusionsquoten in Südwestdeutschland, d.h. in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, sind zwischen 2008 und 2017 sogar gestiegen.

Förderschwerpunkt Lernen

Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass die Chance auf Inklusion nicht nur vom Wohnort abhängt, sondern auch vom Förderbedarf. Insbesondere im Förderschwerpunkt Lernen besuchen in allen Bundesländern heute weniger Kinder Förderschulen. Hier sank die Exklusionsquote bundesweit von 2,1 auf 1,3 Prozent. In Sachsen-Anhalt ist diese Entwicklung mit einem Rückgang um 2,6 Prozentpunkte besonders stark ausgeprägt. Laut Bericht findet Deutschland damit „Anschluss an internationale Standards“, denn „in den meisten anderen Ländern werden Kinder mit Lernschwierigkeiten schon seit langem in den Regelschulen unterrichtet.“

Anders sieht es bei den anderen Förderschwerpunkten aus: Während Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache in elf Bundesländern häufiger als früher eine Regelschule besuchen, hat sich für Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten geistige oder körperliche Entwicklung zwischen 2008 und 2017 wenig geändert; bei Schülern mit sozial-emotionalen Beeinträchtigungen gibt es heute sogar mehr Exklusion.

Der bundesweite Rückgang der Exklusionsquote von 4,9 auf 4,3 Prozentpunkte verdanke sich also nur der Entwicklung in den Bereichen „Lernen“ und „Sprache“, so Klemm. „In weiteren Förderschwerpunkten ist Deutschland dem Inklusionsgebot der UN-Konvention entweder überhaupt nicht näher gekommen oder hat sich sogar noch von dieser Vorgabe entfernt.“ Er fordert von den Ländern, die Inklusion an Schulen stärker voranzutreiben. Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung sei wichtig, weil internationale Studien zeigten, dass es den Kindern eher nutze als schade. Außerdem sei es wichtig, dass die Kinder, die keinen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, mit Kindern aufwachsen, die diesen Bedarf haben.

Bertelsmann Stiftung fordert größere Anstrengungen

Ein geringerer Anteil von Kindern an Förderschulen bedeutet nicht automatisch, dass der gemeinsame Unterricht an Regelschulen funktioniert. Über die Qualität des inklusiven Unterrichts sagt die Studie nichts. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, hebt aber die Leistung der Lehrkräfte hervor. Diese würden vielerorts allerdings noch zu wenig dabei unterstützt, mit der immer heterogeneren Schülerschaft umzugehen. Das erkläre auch, warum es in vielen Lehrerzimmern ein Unbehagen gegenüber der Inklusion gebe. Er fordert mehr „sonderpädagogische Kompetenz und Fortbildungen für die Lehrer, um den unterschiedlichen Schülern besser gerecht zu werden.“ Notwendig seien insbesondere Systeme auf Länderebene, die die Lehrkräfte wirksam unterstützen: „Länder, die bei der Inklusion weit fortgeschritten sind, haben für Lehrkräfte effektive Strukturen etabliert – wie etwa die Zentren für unterstützende Pädagogik in Bremen oder die Förderzentren Lernen in Schleswig-Holstein.“ Um die regionalen Unterschiede bei der Inklusion in Deutschland zu verringern, plädiert er für bundesweit einheitliche Qualitätsstandards. Impulse dafür erhofft er sich vom geplanten nationalen Bildungsrat. Dieser könnte in Zusammenarbeit mit den Bundesländern gemeinsame Standards für die Umsetzung von Inklusion entwickeln.

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert von Bund, Ländern und Kommunen angesichts der Ergebnisse mehr Anstrengungen bei der Umsetzung der Inklusion. „Es gibt keinen Grund zum Jubeln. Politik muss mehr Geld in die Hand nehmen sowie Konzepte und Strukturen entwickeln, damit Inklusion erfolgreich sein kann“, betont Ilka Hoffmann, für Schule verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied. „Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass der Fortschritt bei der Inklusion bescheiden ist. Das gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Bundesregierung die UN-Behindertenkonvention bereits vor fast zehn Jahren unterzeichnet hat.“ Sie bemängelt, dass Bund und Länder weder eine Strategie noch Standards vorgelegt hätten, wie Inklusion in den Schulen umgesetzt werden solle.

Kritik an der Studie
Kritik an der Studie selbst gibt es u.a. aus den südlichen Bundesländern und vom Deutschen Lehrerverband. Die Exklusionsquote als einzigen Indikator für die Beantwortung der Frage zu wählen, ob und inwieweit Kindern mit Behinderung der Zugang zu den allgemeinen Schulen ermöglicht wurde, greift aus baden-württembergischer Sicht zu kurz: „Diese Sichtweise lässt sämtliche Anstrengungen seitens der Lehrkräfte, der Schulen und der Schulverwaltung, Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf individuell zu einem ihren Voraussetzungen entsprechenden Bildungsabschluss zu verhelfen, außer Acht. Die Quote alleine kann nicht der entscheidende Indikator für den Erfolg der Inklusion sein“, sagt eine Sprecherin. Entscheidend sei vielmehr, die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche des Kindes und seiner Eltern mit den Angeboten und Möglichkeiten des Schulsystems in Einklang zu bringen.

Auch für Bayerns Kultusminister Bernd Sibler bildet die sogenannte Exklusionsquote der Bertelsmann Stiftung die Inklusion an den Schulen im Freistaat nur unzureichend ab. Die Beurteilung der Inklusion in Bayern sei in dieser Weise unzutreffend und missachte die Leistungen der Schulfamilien, so Sibler: „Bei der Inklusion setzen wir in Bayern auf vielfältige Konzepte und Förderorte. Unsere Förderschulen als alternative Lernorte und Kompetenzzentren zur Unterstützung der allgemeinen Schulen sind daher eine wertvolle und wichtige Säule in unserem bayerischen Ansatz.“ Eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Förderbedarf werde in Bayern gemeinsam inklusiv an Förderschulen unterrichtet. Dies geschehe durch offene Klassen an Förderschulen und durch Partnerklassen von Regelschulen an Förderschulen, so Michael Eibl, Vorsitzender LAG Förderschulen in katholischer Trägerschaft. Er verstehe nicht, dass die Bertelsmann Stiftung diese wichtige Entwicklung ausblende. Stattdessen gehe sie davon aus, dass Inklusion nur an allgemeinen Schulen stattfinden kann, kritisiert er und bemängelt das Fehlen einer qualitativen Analyse der Förderorte.

Ähnlich sieht das Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Nach ihm zeichnet die Studie ein vollkommen falsches Bild vom Stand der Inklusion in Deutschland. „Wieder einmal orientiert sich Herr Klemm ausschließlich an Quoten statt an Qualität. Gelobt werden mit Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen wegen ihrer hohen Inklusionsquoten und geringen Exklusionsquoten Bundesländer, die – häufig gegen den Willen betroffener Eltern – Förderschulen und Förderzentren zwangsweise geschlossen und damit die Kinder an Regelschulen umgeleitet haben“, kritisiert er und betont: „Für die inkludierten Kinder hat sich die Fördersituation dadurch aber oft verschlechtert. Sie befinden sich meist in größeren Klassen als zuvor an der Förderschule und werden oft in geringerem Maße als zuvor an der Förderschule durch spezifisch ausgebildete Förderschullehrkräfte betreut und unterrichtet.“ Insofern verfehle die Bertelsmann-Studie ihr Thema, wenn sie behaupte, ein Bild des gegenwärtigen Stands der Inklusion zu zeichnen.

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 20.09.2018
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